[Jaspers vs. Lukács]
»Herr Lukács hat das Gemälde einer völlig und planmäßig nach dem sozialistischen System beherrschten Welt entworfen; aber die Verwirklichung dieser Welt ist kein Gegenstand des Glaubens und der Überzeugung. Wir müssen uns der ständigen Transzendenz eben dieses Horizonts bewusst werden. Er ist wesensmäßig eben das, was transzendiert; was überschreitet und jenseits dessen liegt, was wir jeweils zu erreichen und zu besitzen meinen. Den Besitz des Ganzen gibt es nicht für uns; sondern nur einen Weg, der bis zu einem Horizont hinführt, den unser Blick nicht mehr erreicht. Niemals gibt es eine erreichte Totalität, nicht einmal eine eines Tages prinzipiell erreichbare. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen durch die versucherische Illusion eines vor uns in der Zukunft vorhandenen Guten. Alle Totalitäten zerbrechen vor uns und werfen uns durch ihr Zerbrechen in die konkrete Situation zurück: ins Jetzt und Hier mit ihren Aufgaben. Uns damit zu trösten, dass später andere sich in den Besitz dessen setzen werden, was dann das Ganze sein wird – dieses Alibi ist uns versagt.« (Karl Jaspers zu Georg Lukács bei den Rencontres Internationales, Genf 1946)
[Szondi]
»Ich habe Szondi Ihre Grüsse bestellt. Ich glaube nicht, dass an den Gerüchten, er verhandle hier über eine Professur in Jerusalem, irgend etwas ist. Das würde ich wissen. Hier wäre wohl ein Interesse an ihm vorhanden, ich glaube aber nicht, dass das erwidert wird. Er ist aus irgend einem dunklen Trieb in einem ihm sonst gänzlich ungewöhnlichen positiven Auftrieb hierhergekommen. Aber es ist um ihn eine derartige Luft von Vereinsamung und Nicht-aus-sich-selbst-Heraustretenwollen, eine Neigung zur Depression und Mangel an unmittelbarer Teilnahme an Dingen, die uns, die wir uns sehr viel mit ihm abgeben, bedrückt und auch anderen Menschen auffällt. Es scheint hier ein schreckliches, tiefverwurzeltes Schuldgefühl zum Ausbruch zu kommen, gerade in der Berührung mit einer jüdischen Gesellschaft, wonach er sich schuldig fühlt, weil er in dem berühmten Kastner-Zug 1944 gerettet worden ist, nach seinem Gefül auf Kosten anderer. Diese Sache bohrt in ihm mehr als man denken könnte. Es fällt ihm schwer, sich mitzuteilen.« (Gershom Scholem an Adorno, 29. Februar 1968)
Die Berührung mit einer jüdischen Gesellschaft, genauer: jüdisch-ungarischen Gesellschaft wird Szondi noch näher gebracht haben, was er schon wusste, worüber er aber – vielleicht zum ersten, gar zum einzigen Mal – in Israel sprach: Rund die Hälfte der Angehörigen des Kasztner-Zuges waren nach 1945 gemeinsam nach Palästina emigriert.
So umstritten und zerrissen nahm sich für Peter Szondi 1968 die Geschichte seiner Rettung 24 Jahre zuvor aus. Es scheint, als habe der Aufenthalt in Jerusalem das Umstrittene, Zerrissene in ihm wenn nicht wachgerufen, so doch verstärkt. Seit einigen Jahren litt Szondi an Depressionen, die periodisch wiederkehrten, und unterzog sich einer psychoanalytischen Behandlung. Wir dürfen vermuten, dass er sich Scholem anvertraut hatte. Er schreibt ihm in einem für seine Verhältnisse sehr persönlichen Brief zwei Jahre später, warum er nicht an die Hebräische Universität wechseln wolle, »obwohl ich es möchte«:
»Sie haben einmal in Jerusalem mit einem in seiner Hellsichtigkeit zwar nicht überraschenden, aber unvergesslichen Satz gesagt, warum ich in Deutschland lebe und wohl hier bleiben werde: weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein (ich war es in meiner Budapester Kindheit so wenig wie in Zürich und streng genommen auch in anderem Sinn bei meinen Eltern nie). Das ist eine Krankheit, die man vielleicht mit der Rosskur einer, aus welchem Grun auch immer, notwendig werdenden Emigration heilen könnte; aus freiem Willen bringe ich die Kraft zu diesem Schritt umso weniger auf, als ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage.«
Im Frühjahr 1971 hatte sich Szondi entschieden, in Zürich den Lehrstuhl für Komparatistik zu übernehmen. Der Weggang von Berlin fiel ihm offensichtlich schwer und ihn zu verstehen fiel auch schwer, wie Dieter Henrich in seinem Nachruf schrieb. Vermutlich am 18. Oktober 1971 nahm sich Peter Szondi im Berliner Halensee das Leben. Auf seinem Schreibtisch lag [...] das Fragment Eden, in dem Szondi von einer Autofahrt mit Paul Celan durch das vorweihnachtliche Berlin im Dezember 1967 berichtet, die ihren Niederschlag in Celans Gedicht »Du liegst« gefunden hat. Sie fuhren an jener Stelle vorbei, wo das Eden-Hotel stand, das im Januar 1919 als Sitz des Stabs der Garde-Kavallerie-Schützendivision diente. In diesem Haus hatten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die letzten Stunden ihres Lebens verbracht, bevor man sie erschoss:
»Das ›Eden‹ liegt unmittelbar neben dem ›Europa-Center‹, dessen Geschäfte für das kommende Fest geschmückt waren. Vom Kurfürstendamm her biegt man in die Budapester Straße ein, die in den Tiergarten und zum Landwehrkanal führt. Der Hohn, den die Beibehaltung des Namens für das Luxusapartmenthouse auf das Gedenken der beiden Ermordeten darstellt, war Thema unseres Gesprächs im Auto.«
Dieses eine Mal erwähnt Szondi seine Geburtsstadt in seinem Werk, die durchquerte Budapester Straße. Das Apartmenthaus »Eden« hat man unterdessen abgerissen.
Thomas Sparr, Hotel Budapest, Berlin ... Von Ungarn in Deutschland