Tagebuch meiner Lektüren
Oktober 2009
Oh je, jetzt ist auch der Oktober schon fast zu Ende, und es haben nicht gerade viele Bücher aufs Sofa gefunden, na ja, das ist nicht wahr, die ganze Sofalehne liegt voller Bücher (in Stapeln!), und gelesen habe ich auch – aber das Drüber-Schreiben, nicht nur so lala und ohne Saft und also Witz und Treffsicherheit, dazu muss ich ja vom Sofa aufstehen, und das fiel mir in den letzten Wochen ein bisschen schwer, angesichts von FOUCAULTs Vorlesungen mit dem wunderbaren Titel DIE REGIERUNG DES SELBST UND DER ANDEREN (Suhrkamp) und des neuen Gedichtbands von MAYRÖCKER: DIESES JÄCKCHEN (NÄMLICH) DES VOGEL GREIF (Suhrkamp),
(…) Wenn ich an 1 bestimmte Freundesperson
denke (Leo N.) und mir vorstelle dasz sie Bücher schreibt, kriege
ich Lust auch zu schreiben, ach
ach ja, und in einem in alte Zeiten verführenden VENEDIG-Band mit handkolorierten Dia-Positiven (Chr. Brandstätter) zu blättern, dazu hat man auch Lust, und dann sind da TERÉZIA MORAs neuer Roman DER EINZIGE MANN AUF DEM KONTINENT (Luchterhand), KRACAUERs STRASSEN IN BERLIN UND ANDERSWO (Suhrkamp), der BRIEFWECHSEL ENZENSBERGER–JOHNSON (Suhrkamp) und NACHRICHTEN VOM SCHWARZEN MEER (natürlich Suhrkamp), eine Anthologie literarischer Texte über Orte des Exils und der Zuflucht an der Grenze zwischen Europa und Asien. Darin blätterte ich auch einen Abend herum und betrachtete die Fotos aus der Türkei, aus Bulgarien und Georgien, und las den Beitrag von ATTILA BARTIS, DAS EINZIGE MEER. METAMORPHOSEN, der so poetisch-ungeheuerlich ist, dass einem beim Lesen der Atem stockt – ebenso sehr aus Beklemmung über das Gelesene wie über die Gelungenheit dieses Textes, der von einer Reise an den KANAL erzählt, der auch durch die Texte von HERTA MÜLLER geistert, denn der KANAL war das Arbeitslager für politische Gefangene in Rumänien, aus dem die wenigstens wiederkehrten, und wer wiederkam, war vielleicht ebenso tot, erloschen. Und davon also erzählt dieser Text und von der Kindheit in Rumänien, die mit diesem Wissen belastet war, ohne dass die Kinder doch eigentlich etwas wissen durften – Nicht wahr, mein liebes Sternchen, du weißt, worüber man weder mit der Lehrerin noch mit irgendwem sonst reden darf, fragte meine Mutter jeden Morgen, bevor sie meine Hand losließ, und wie hätte ich es nicht wissen sollen, mit sieben Jahren –, und er erzählt vom Vergessen, Sich-Erinnern und vom Schreiben. Und dann las ich endlich auch BARTIS’ großes Hauptwerk, den Roman DIE RUHE, in zwei langen Nächten. Und befand mich dabei und danach so sehr in dieser Welt, die so viel mit meiner eigenen Romanwelt zu tun hat, dass mir das Gesicht glühte und ich mir mit diesem glühenden Gesicht, aber kalten Händen Notizen machte und voller Freude, nein Glück, war und dann wieder voll Angst, denn was blieb da noch mir, für mein Buch, wenn bei BARTIS auch alles andersherum ist, der Mann die Frau, die Frau der Mann, Letzteres vor allem, mit diesem Nicht-von-sich-erzählen-Wollen, weil, mit einer neuen Liebe, ja alles erst (wieder) beginnt (so die Behauptung) und sich, wer man ist, erst im Tun erweist, nicht im Reden, Erzählen. Und es fiel mir wieder schwer, an das Draußen anzuknüpfen, es war, als müsste ich große, wesentliche Teile von mir wegschneiden, und das alles hatte ein Buch ausgelöst, dass das eigene bedrohte und es vorantrieb, und ich weiß nicht, welches von beidem mehr. Und dann kam ja auch der Nobelpreis und also die bereits erwähnte HERTA MÜLLER, und so las ich, in zwei anderen langen Nächten, endlich den hier, neben dem Sofa, schon lang herumliegenden FUCHS, der DAMALS SCHON DER JÄGER WAR, mit dem ich mich ein bisschen quälte, wegen der Sprache, diesen vielen Metaphern, vor allem aber wegen des Rhythmus, der so ganz anders ist als mein eigener, in keinem rationalzahligen Verhältnis zu ihm steht, so dass es mich ständig aus dem Lesen herauswarf – und ich weiß bis jetzt nicht, ob das für oder gegen das Buch spricht, oder gegen mich, oder gar nichts sagt. Und endlich, gestern, DIETMAR DATH, dessen MASCHINENWINTER ja auch noch ein August-Desiderat ist, der neue Roman, der, nach zunächst 16 Seiten im September und sehr viel Schon-da- und Vorfreude, nun in großem Showdown, der etwas aufgesetzt wirkte, vor allem aber große Vorstellungsverwirrung auslöste (allerdings war es auch schon wieder mal recht spät, Augen und Kopf nicht mehr ganz frisch), an sein Ende kam, das ein für die Liebe, die ja in allen DATH-Büchern eine große Rolle spielt und bei allem Szientifistischen und Modephilosophischen Drumherum ihr eigentliches Zentrum bildet, triumphales war, dabei aber gar nicht triumphal auftrat, sondern sich, in allen Verletzungen, inneren und (durch den schießwütigen und motorräderherumschleudernden Showdown) äußeren, dann einfach am Ende als das Stärkere erwies, aber was heißt hier: einfach? Einfach ist bei DATH, der Pop und Frühromantik in ein häufig fruchtbares, manchmal aber leider auch steril-intellektualistisches Verhältnis bringt, ja nahezu nichts, auf einer Ebene, nämlich der wort-für-wort-wortwörtlichen, da wird einem, vor allem wenn man keine kopflüftenden Pausen macht, doch hin und wieder etwas schwindlig, da einfallsüberzuckert, auf einer anderen, der gesamtsemantischen, aber ist der ganze Wortzauber dann wieder sehr einfach, geht es doch, kurz gesagt, um die Romantisierung der Welt durch liebebeflügelte Poesie (wobei die Flügel manchmal auch ganz schön hängen können – aber Sehnsucht, Begehren und Bindungsangst sind ja seit alters her – nicht wahr, Herr DATH, seit Artemis’ Zeiten – ihre ureigenen Ingredenzien). Und zwischendurch gab’s einen kleinen französischen Roman über einen großen tschechischen Läufer, JEAN ECHENOZ’ LAUFEN, der die Lebensgeschichte von EMIL ZATOPEK erzählt, der nicht nur mehrfacher Weltrekordhalter über Langlaufstrecken verschiedener Distanzen war, sondern, während des Prager Frühlings, dann seine Stimme gegen den sowjetischen Einmarsch erhob und für die Demokratisierung des Sozialismus warb, was ihm fünf Jahre Uranbergbau und anschließenden Einsatz bei der Prager Müllabfuhr bescherte – bescherte, ja, das ist natürlich ein völlig unpassendes Wort in diesem Zusammenhang, aber mit ebensolchen, eigentlich unpassenden Wörtern ist diese ganze fiktionalisierte Biographie geschrieben, was ein gut lesbares, aber auch etwas naives Buch ergibt, das mehr unterhält als bewegt, mehr amüsant als wahr ist. ––– Die letzten Wochen aber standen zu großen Teilen und erstaunlicherweise im Zeichen PASOLINIs; zunächst gab es da die Ausstellungseröffnung im Literaturhaus, dann erschien das 73. SCHREIBHEFT mit Gedichten, und Gedichte erschienen auch, in einer wahnsinnig schönen, knallroten Ausgabe bei URS ENGELER EDITOR, und zwar die friulanischen, DUNCKLER ENTHUSIASMO, und zwar zweisprachig, wobei zweisprachig ein Understatement ohnegleichen ist, denn was der Übersetzer CHRISTIAN FILIPS hier leistet, indem er vom Mittelhochdeutschen bis zu verschiedenen Dia- und Soziolekten alle Sprachstufen und -schattierungen des Deutschen weckt, grenzt an Zauberei. Eine Doppelseite aber, eine nahezu leere, auf der man nichts zu übersetzen brauchte, denn dort steht nur ein vierfaches Casarsa, Casarsa, Casarsa, Casarsa, diese Doppelseite mit dem Namen des Herkunftsorts der Mutter, der auch, obwohl er in Bologna zur Welt kam, zu PASOLINIs archaischem Ursprung wurde, ist, und das ganz ohne Sprach- und Wortkunst, so schön, so dorfsommerwinddurchweht, dass man beglückt darauf blickt und ins Träumen gerät, in die eigene Kindheit treibt, ins alte Italien, zwischen die Berge und unter die rufenden Stimmen, dass man den Staub der Straßen riecht, dass man das Rauschen der Bäume hört und dann, wie damals, in den Stunden des Mittags, den Vogel, diesen unsichtbaren Vogel mit dem hohen, ganz hohen Zirpton. ––– RESTE: Und dann noch YANG LIAN und ZELIK/ALTVATER und die Lektüre von PÉTER NÁDAS' erster Erzählung, die nun schon so weit zurückliegt, dass ich sie eigentlich wiederholen könnte – ein leichtes, feines Buch. Ja, gerade ergeht es mir schlimmer als mit allen Literaturmessebeilagen zusammen, deren Hülle und Fülle angepriesener Bücher auch leicht zu vollkommener Leseabstinenz führt (was, angesichts fallenden Laubs nicht das Schlechteste ist, Herbstspaziergänge sind voll herrlicher Melancholie und verbunden mit wohltuender Teevorfreude). Da muss also eine Rangliste her. ––– Aber ich habe auch eine große Sehnsucht nach Büchern (PROUSTs RECHERCHE, VIRGINIA WOOLFs TAGEBÜCHERN). ––– 30. Oktober: PASOLINI, DIE LANGE STRASSE AUS SAND (Corso), leider nicht mit den Originalfotos von PAOLO DI PAOLO, die den dreiteiligen Abdruck in »Successo« begleiteten. Schon witzig dieses rencontre von PP und PPP. Eine lange, mehrteilige Reportage aus dem Wirtschaftswunderitalien, Zukunftsgewissheit, Aufbruchsfreude, Zweifelferne sprechen aus jedem Gesicht; nur die Kinder erscheinen merkwürdig streng und fern und weise. ––– Und bald, schon bald ist es wieder so weit:
(...) und die schabenden
Schaufeln der Schneefeger in der Strasze am
Morgen nicht zu sehen nur zu hören vom Bett aus man
liegt noch will schlafen in der Frühe der Dämmerung (...)
WARLAM SCHALAMOW: ÜBER PROSA (Matthes & Seitz):
Der Roman ist tot. Und keine Kraft auf der Welt wird diese literarische Form wiedererwecken.
Menschen, die durch Revolutionen, Kriege und Konzentrationslager gegangen sind, lässt der Roman gleichgültig. (7)
Das weltweite gewaltige Interesse an der Memoirenliteratur – das ist die Stimme der Zeit, das Zeichen der Zeit. Der heutige Mensch überprüft sich und sein Handeln (...) an Ereignissen und Menschen des lebendigen Lebens – des Lebens, dessen Zeuge und Teilhaber der Leser selbst war. (8)
Ein Detail, das kein Symbol einschließt, wirkt überflüssig im literarischen Gewebe der neuen Prosa. (11)
Fruchtlos endeten Tschechows Versuche, einen Roman zu schreiben. Eine langweilige Geschichte, Erzählung eines unbekannten Menschen, Mein Leben, Der schwarze Mönch – all das sind beharrliche, misslungene Versuche, einen Roman zu schreiben.
(...)
Mit einer Reportage hat die Prosa der Erzählungen aus Kolyma nichts zu tun. (...) In den Erzählungen aus Kolyma gibt es keine Beschreibungen, gibt es kein Zahlenmaterial, keine Folgerungen, nichts Publizistisches. In den Erzählungen aus Kolyma geht es um die Darstellung neuer psychologischer Gesetzmäßigkeiten, um die literarische Erforschung eines schrecklichen Themas, und nicht um Information, nicht um eine Zusammenstellung von Fakten. (13–14) //-> vgl. PRIMO LEVI, INTERVIEWS, 167//
Es gibt keinen Menschen, der aus der Haft zurückgekommen ist und auch nur einen einzigen Tag nicht an das Lager gedacht hätte, an die erniedrigende und schreckliche Arbeit im Lager. (14)
Es beginnt die Aufzeichnung – wo es sehr wichtig ist, das Ursprüngliche zu bewahren, es nicht durch Korrektur zu verderben.
(...)
Man muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument, von Memoiren nicht zu unterscheiden ist. (16)
Die außerordentliche Bedeutung des Erhaltens der ersten Variante. Eine Korrektur ist unzulässig. Besser eine erneute Gefühlsaufwallung abwarten und die Erzählung noch einmal schreiben mit allen Rechten der ersten Variante. (28)
Der Künstler arbeitet ununterbrochen, und ununterbrochen, permanent, läuft die Verarbeitung des Materials. Die Eingebung ist das Ergebnis dieser permanenten Arbeit. (29)
Wie davon erzählen? Wie begreiflich machen, dass das Denken, die Gefühle, die Handlungen des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht, sein Wortschatz reduziert und seine Sinne abgestumpft? Von diesem Leben kann man nicht in der ersten Person erzählen. Denn eine solche Erzählung würde niemanden interessieren – so arm und begrenzt wäre die seelische Welt des Helden. (33)
Und zur Sprache:
Die Chefs, die Kriminellen – buchstäblich alle – ärgerte das Geschraubte in der Sprache der Intelligenz. (...) Nicht ein einziges Mal fand ich in mir die Kraft zu energischer Empörung. All meine Gedanken waren demütig und stumpf. Diese sittliche und geistige Stumpfheit hatte ein Gutes – ich hatte keine Angst vor dem Tod und dachte ruhig daran. Mehr als der Gedanke an den Tod beschäftigte mich der Gedanke an das Mittagessen, an die Kälte, an die Schwere der Arbeit – kurz, der Gedanke an das Leben. Aber war das überhaupt ein Gedanke? Das war eine Art instinktives, primitives Denken. Wie sich in diesen Zustand zurückversetzen und in welcher Sprache davon erzählen? Eine Bereicherung der Sprache bedeutet eine Verarmung der Erzählung im Sinne der Wahrheitstreue, der Wahrhaftigkeit. (36/37)
LEVI betont den Unterschied zu den sowjetischen Lagern. Wie man bei SCHALAMOW – den LEVI im Interview/Gespräch mit (???) erwähnt und dessen ERZÄHLUNGEN AUS KOLYMA er rezensiert hat – sieht, hat er ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Im Nachwort von JÖRG DREWS steht: »Das Entsetzliche muss in immer neuen Facetten formuliert werden, und doch bleibt die Beschreibung dessen, was Realität war, ungenügend, unausgeschöpft.«