Tagebuch meiner Lektüren
Juli 2009
2. Juli: Ein paar Tage war ich drumherumgeschlichen – angesichts aus allen Nähten platzender Bücherregale, noch ein Buch? Dann kam ich wieder an dem Antiquariat vorbei, das Buch stand nicht mehr im Schaufenster, der Antiquar aber davor, er zündete sich gerade eine Zigarette an, und noch bevor er den ersten Zug tun konnte, schoss meine Frage auf ihn los: Ist die Duras nicht mehr da? Sie war es. Und natürlich kaufte ich das Buch. Und es lohnte sich sehr, sehr.
Und auch das Schreiben, nein, ich glaube nicht, daß es Arbeit ist. Ich habe es lange geglaubt. Ich glaube es nicht mehr. Ich glaube, es ist eine Nicht-Arbeit. Es bedeutet das Erreichen der Nicht-Arbeit. Der Text, das Gleichgewicht des Textes ist ein Raum in einem selbst, den man wiederfinden muss. (...) Alle suchen wir diese Augenblicke, in denen wir uns von uns selbst zurückziehen, dieses Inkognito uns selbst gegenüber, das wir verheimlichen.
Man kann niemanden zwingen zu sehen, was er nicht selbst gesehen hat, zu entdecken, was er nicht allein entdeckt hat, niemals, ohne daß man seinen Blick zerstört, seinen Blick, welchen Gebrauch auch immer er davon macht.
ICH WOLLTE IHNEN SAGEN, IHNEN: Wenn ich jung wäre, wenn ich noch nichts wüßte von der Trennung zwischen den Menschen und der quasi mathematischen Konstanz dieser Trennung, würde ich dasselbe tun wie jetzt, dieselben Bücher schreiben, dieselben Filme drehen. Ich bin also im Alter von achtzehn Jahren stehengeblieben, wie sie, die ersten Zuschauer und Leser. Wenn ich gestern gestorben wäre, wäre ich mit achtzehn gestorben. Wenn ich in zehn Jahren stürbe, würde ich ebenfalls mit achtzehn gestorben sein. Ich sage Ihnen auch: Man glaubt, die Erkenntnis dieses grauenhaften Tatbestands der unaufhebbaren Trennung zwischen den Menschen nicht überleben zu können. Doch es stimmt nicht. Man überlebt es. Man kann. Jeder auf seine Weise.
.FILME ÜBER NACHT. Es gibt Filme, die bleiben, es gibt Filme, die sich in den Stunden, nachdem man sie gesehen hat, verflüchtigen. So weiß ich, ob ich im Kino war oder nicht: Was am nächsten Morgen aus dem Film vom Abend vorher geworden ist, sein Zustand nach der Nacht, das ist dann der Film, den ich gesehen habe. Manchmal geben sich Filme erst nach zwei Monaten zu erkennen. Die meisten Filme verschwinden.
Godard? Er ist einer der größten. Der größte Katalysator des Kinos weltweit.
DIE EINSAMKEIT Man findet, die Menschen seien in der heutigen Gesellschaft zu sehr allein. So gesagt, bedeutet das, glaube ich, gar nichts. Es gibt unerträgliche Menschen, denen jeder aus dem Weg geht, eben weil sie unfähig sind, allein zu sein. Menschen, die nicht sehen, nicht hören und das Leben um jeden Preis möblieren. Menschen, die entsetzt und isoliert sind, gerade wegen ihres Entsetzens bei dem Gedanken an die Einsamkeit des Lebens. Ihr Entsetzen entsetzt uns wiederum. Wenn wir vom Alleinsein sprechen, finden wir, daß die Menschen gleichzeitig zu viel und nicht genug allein sind. Die meisten Menschen heiraten, um aus dem Alleinsein herauszukommen. Um zu leben mit, zu essen mit, ins Kino zu gehen mit. Das Alleinsein ist vertuscht, aber nicht aufgehoben.
Von zukünftigen Projekten kann man immer reden, von einem zukünftigen Film zum Beispiel, das hält den Film oder das Projekt nicht auf. Ein Buch hingegen, das gerade geschrieben wird, ist ein Ort, der nicht betreten werden darf, bei Strafe seiner Nichtexistenz. Wenn man von einem Buch etwas nach außen hin sehen läßt, anschauen läßt, nimmt man etwas aus ihm heraus, und zwar endgültig. Das Buch kommt hervor, und während es hervorkommt, ist es nichts weiter als potentielles Leben, und wie das Leben braucht es alle möglichen Zwänge – Ersticken, Schmerz, Trägheit, Leiden, Hindernisse aller Art, Schweigen und Dunkelheit. Zuerst macht es den Widerwillen gegen das Geborenwerden durch, den Schrecken davor zu wachsen und das Licht der Welt zu erblicken. Wenn es dann existiert, trägt es keine Spur, nichts mehr von dieser ersten Wegstrecke an sich. Aber während es sie durchläuft, muß es das allein tun, ohne jede Hilfe. Man kann nicht vorzeitig darüber urteilen, was daraus werden wird und das Geheimnis zur Schau stellen, das über seinem Schicksal herrscht, ohne seine Zukunft zu verstümmeln und, vor allem, ohne zu bewirken, daß sein Geheimnis für immer entweicht, daß es dadurch für immer verändert wird. Man muß diese Reise mit dem entstehenden Buch auf sich nehmen, dieses Zuchthaus, während der ganzen Zeit des Schreibens. Dann findet man Gefallen an diesem wunderbaren Unglück.
.Diejenigen, die Kilometer von Bildern machen, sind naiv, und – haben Sie es bemerkt? – manchmal kommen sie zu nichts. Mit dem Schwarzfilm wäre ich also beim idealen Bild angelangt, bei dem der eingestandenen Ermordung des Kinos.
Muss man, damit diese Sätze leuchten, wissen, aus welchem Buch sie sind? Muss man das Buch anpreisen, sagen, was es ist, was es nicht ist? Nein. Und vielleicht hat dasselbe der Verlag gedacht – und im Buch keine einzige Anmerkung zu Texten und Fotos abgedruckt. Denn dass man dieses Buch in seiner Nähe haben und oft und immer wieder darin lesen muss, ist auch so klar.
(Es ist nun das einzige Juli-Buch geblieben – und vielleicht ist das ganz richtig so. Denn auch wenn es noch mehr Lektüren gab, bei keiner haben die Gedanken, die fremden, die eigenen, so gestrahlt.)
MARGUERITE DURAS: DIE GRÜNEN AUGEN – TEXTE ZUM KINO. Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Hanser 1987.