1. Dezember

01.12.2022

1. DezemberKritik ROT

»... ich komme nicht voran, indem ich die Wirklichkeit bloß reproduziere, sondern ich muss sie mir ausdenken, fühlend ausdenken, sie neu zusammensetzen und formen. Darin aber liegt die Schwierigkeit, im Zusammensetzen der vielen Mosaiksteine, von denen ich nicht weiß, was sie bedeuten, ob sie überhaupt etwas bedeuten, das bedeuten, was ich glaube, das sie bedeuten, die vielen kleinen Momente der Freude und des Schmerzes, die unser Leben ausmachen, und darin alles, die ganze Welt, Krieg und Frieden, Liebe und Hass.«


Dieser Halbsatz der Ich-Erzählerin Milena, Schriftstellerin, Suchende, Tastende, Fühlende und Denkende, an Einsamkeit und zugleich Angst vor Nähe Leidende, ist einer der unendlich vielen kleinen Mosaiksteine, aus denen sich ihre Welt zusammensetzt.

Milena ist Mitte vierzig, sie lebt in Berlin. Um schreiben zu können, muss sie sich komplett zurückziehen, in ihrer Wohnung isolieren. In diesen Phasen geht sie nicht ans Telefon, öffnet keine Emails, sie ist vollkommen für sich.
Nur eine Person hat Zugang zu ihr: Hans. Ihn »dachte ich mir (...) aus, meinen Lebensgefährten, den Lebensgefährten, den ich brauchte wie nichts und niemanden sonst. (...) Er war der Einzige, der mich immerfort ermutigte, immer, wenn mir der Kopf auf die Brust sank, und vielleicht habe ich ihn mir deshalb ausgedacht.«

Sie gibt ihm einen Beruf, er ist Diplomat, viel auf Reisen, sein Koffer ist stets gepackt, bereit zum Aufbruch. Er lebt in einer kargen Wohnung, besitzt fast nichts. Er pflegt die Sprache der Diplomatie, deren Regel lautet: niemals etwas direkt zu sagen, keine Fragen eindeutig zu beantworten.

Außer Hans gibt es in Milenas Leben ihre Freundin Margót. Sie ist eine unabhängige Frau, analytisch denkend. Doch sie ist der jungen Studentin Rée verfallen, die auch auf Milena große Faszination ausübt.

Bettina Hartz’ Roman kreist um die Themen Abhängig- und Unabhängigkeit, Liebe und Hingabe, Für-Sich-Bleiben oder in einer (kleinen) Gemeinschaft leben. Ganz besonderes Augenmerk legt sie auf die Frage: Wie entsteht Wirklichkeit? Wie ist das Verhältnis von Literatur und Leben?

So lautet das Motto des ersten Teils des Romans: »Man muss die Geschichten erfinden, ehe man sie erleben kann.« Das des zweiten Teils: »Man muss die Geschichten erleben, ehe man sie erfinden kann.«

Zudem gibt es einen Prolog und einen Epilog. Diese beiden beginnen mit den gleichen Worten, dann fällt im Epilog ein Satz weg, ein anderes Wort kommt hinzu  so entwickelt sich schleichend ein leicht verzerrtes Spiegelbild. Eines, das das Ende des Romans in eine andere Richtung fließen und sofort neue Fragen aufscheinen lässt.

Auch um Geheimnisse geht es, um Gesagtes und Ungesagtes, um das, was dieses Ungesagte sagt  Bettina Hartz steigt tief in den Brunnen der Sprache und Wörter, sehr tief in die Herzen und Köpfe ihrer Protagonisten. Sie leuchtet aus, ihr Stil ist atemlos, lebt auch von Auslassungen, die die LeserInnen ergänzen müssen. So wird man beim Lesen hineingezogen in diese erfundene Geschichte, die so lebendig ist, wie sie nur sein kann.


»(ich) versuchte zu atmen, am Fenster, (...) um die Last, die Schultern und Brustkorb, den Schmerz, der an den Knochen entlang durch die Arme bis in die Hände, die nur ein paar Wörter, Laute, keinen Satz, seit Wochen nicht einen Satz, um die Last ein wenig zu mindern, ein zwei Atemzüge, ruhig, an nichts denken, nichts, erlöst, ehe dann wieder die Einschnürung, die das Einzige, das mir noch Halt, mich noch mich waschen, noch essen ließ, tun irgendwas, dass der Tag vorbei, der Abend endlich, und der Schlüssel im Schloss, guten Abend, guten Abend, und ein Blick zu mir (...)«
 

Der Roman ist auch eine Liebesgeschichte. Sie handelt von Milena und Hans, die zusammen ins Café oder Kino gehen, eine Reise auf den Balkan, nein, eigentlich ins antike Illyrien, unternehmen. Die überlegen, ob sie zusammenziehen, mit vereinten Kräften Hans’ schwere Krankheit überstehen. Nächtliche Liebesspiele, die oft eher Kämpfen gleichen, erleben und permanent reflektieren, wie nah die Nähe, wie fern die Ferne werden darf-kann-soll. 

Dabei vergisst man immer wieder, dass Hans ja eine ausgedachte Person ist. Eine, die Milena sich erschaffen hat, eine, die nur in ihrem Kopf existiert. Wie die Figuren in ihren Geschichten.

Der Roman hat nicht nur einen doppelten, er hat einen vielfachen Boden. Denn es spielen auch die europäische Geschichte und Politik hinein, außerdem Überlegungen zur Sprache der Macht, die jener der Literatur entgegensteht.

Es gibt diverse Päckchen, die verschenkt und nicht geöffnet werden, oder sehr spät erst. Am Ende des zweiten Teils spielt ein solches eine wichtige Rolle, im Epilog wird aus ihm ein großes Paket  es gibt viele Geheimnisse in diesem grandiosen Roman, nicht alle lassen sich lösen, das muss auch nicht sein.

Er lebt von der einzigartigen Sprache. Ohne Absätze oder Kapitel, mit wenigen Punkten und vielen Kommas fließt er in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorwärts, die LeserInnen stets fordernd. Und er lebt von der ganz genauen Beobachtung, der tiefen Reflexion, der Darstellung eines Individuums, einer Frau, die niemals eine Floskel benutzt, einen Standardsatz oder gar eine Redewendung. 

Milena, die niemals die Straßenbahn nimmt, die mit ihrem roten Rad, dem bicirossa, durch die Stadt fährt, die in einer ganz besonderen Szene des Romans ein »wollenes Kettenhemd« in »Florentiner Rot« trägt oder einmal »das mohnrote Kleid, das Feuerkleid aus dem blauen Papier«, ein Geschenk von Hans, diese Milena ist ein faszinierendes ›offenes Geheimnis‹, um es mit Goethe zu sagen.

Man sollte dieses Buch oder bestimmte Szenen mehrmals lesen, es öffnen sich bei jeder Lektüre neue Türen und Durchblicke. Je nachdem, für welche Sicht auf Hans man sich entscheidet, entsteht ebenfalls eine andere Geschichte. Kaum zu glauben, dass dieser Roman ein Debüt ist. Nach Drehbüchern, Theaterstücken, Prosa und Lyrik ist es der erste Roman der 1974 in Berlin geborenen Autorin.

Große Empfehlung!
 

Petra Lohrmann auf ihrem Blog »Gute Literatur – meine Empfehlung«, Dezember 2022

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