Lektüre

17.11.2023

LektüreNovember

Jede Person ist in gewissem Maße ein Horrorkabinett. Deshalb gehört zum Wesen von Zivilisiertheit, eine Maske zu tragen.
Das Ablegen der Maske ist keine Tugend der Befreiung von allen Zwängen, und Gemeinschaft nicht das Produkt gegenseitiger Selbstentblößung.

Es ist ein Mythos, dass sich sämtliche Missstände der Gesellschaft auf deren Anonymität, Entfremdung, Kälte zurückführen lassen, aus ihm entsteht eine Ideologie der Intimität, die alle politischen Kategorien in psychologische verwandelt. Was dazu führt, öffentliche Angelegenheiten auf der Basis von Gefühlsregungen zu betreiben, die sich letztlich nur auf die je eigene Gratifikation oder Frustration und auf die Sorge um die eigene Gesundheit und das eigene Wohlergehen beziehen. 

Das ist die Weltsicht der Resignierten.

 

Wenn im Rahmen der Gefühlskultur Gemeinschaft nur noch in der Dimension des Persönlichen denkbar ist, bieten sich ethnische Dimensionen geradezu an, um eine Kollektivpersönlichkeit zu entwickeln. In dem Maße aber, wie der Bezug auf die Religion als der zentralen Erfahrung für viele verloren ist, ist Ethnizität bloß eine Hülle, die sich jedoch zu einer neuartigen Identitätsbehauptung im Gehäuse alter Masken verfestigt. Damit entsteht eine verrückte Tautologie: Wenn die ethnische Schale ohne den Glaubenskern rekonstruiert wird, bleibt den Menschen als Gemeinsames einzig der Wunsch, mit den anderen Menschen gemeinsame Gefühle zu entwickeln. 

Die Gemeinschaft wird dadurch zu einem Daseinszustand. Sie erhält sich allein durch die Leidenschaften in ihrem Innern und den Rückzug von der Außenwelt.

Die Effekte dieses Rückzugs sind verheerend. Außenseiter, Unbekannte, Andersartige werden zu Gestalten, von denen man sich fernhalten muss. Die Persönlichkeitsmerkmale, die die Gemeinschaft teilt, werden immer exklusiver. Die Gemeinsamkeit selbst konzentriert sich zunehmend auf die Entscheidung, wer dazugehören kann und wer nicht.

 

 

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, 2021
Christopher Lasch: The Narcissist Society, 1976
Richard Sennett: The Fall of the Public Man, 1977 (dt.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, 1983)

 

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