Lektüre

11.10.2024

Lektüre11. Oktober

Wenn wir lange genug leben, werden wir irgendwann ungeeignet für die Erlösung; wenn wir auch über dieses Alter hinaus sind, finden wir sie plötzlich doch – oder sie findet uns. Ich sehne mich schmerzhaft nach einem narrativen Abenteuer [...]

Der Gedanke an kreative Tätigkeit ist wie Luft schnappen; schreiben, als schwimme man nach dem Schiffbruch der Küste zu. ([...] man erreicht sie nicht, aber man schwimmt.)

Spaziergang am kalten Dinaukai, die nahende Dämmerung übergoß die protzigen Paläste auf der Pester Seite mit der herben Farbe unreifer Äpfel.

Rechtzeitig sterben – aber bis zum Äußersten leben: das ist das Gebet.
Sei deiner selbst würdig.

Die Welt als Gegenstand der Andacht: diese emotionale, nein: kulturelle Einstellung ist längst vorbei.

Wittgenstein macht vollkommen klar, wie die Zivilisation beschaffen ist (falls es bisher noch nicht klar gewesen sein sollte): Statt einer Kultur, welche die kreativen Energien vereint, organisierter Totalitarismus, der jeden in die Sklavenarbeit treibt.

Hegel und alle totalisierenden Geschichtsbetrachtungen sind deshalb unselig, weil sie die Sterblichkeit des Individuums nicht in Betracht ziehen. Der Mensch, der einzelne Sterbliche, hat nicht die Aufgabe, mit dem namenlosen, zähneknirschenden Fleiß eines pyramidenbauenden Sklaven unsterbliche, und seien es auch rationale Strukturen zu errichten, sondern die, seine Sterblichkeit zu begreifen und seine Seele zu retten. [Der Mensch, der einzelne Sterbliche, hat die Aufgabe, seine Sterblichkeit zu begreifen und seine Seele zu retten.] Sein Heil, sein in einem höheren Sinn verstandenes Wohlergehen liegen außerhalb seines geschichtlichen Daseins [...]

Eine Todeswüste umgibt mich. Der Wahnsinn. Eine Atmosphäre der Antikreativität, der Selbstzerstörung, des Mordens. – [...] Der Unterschied zwischen den beiden Kulturen war nie so klar wie heute: In der östlichen, transleithanischen Hälfte der Welt spielen das Menschenleben, das Individuum und demzufolge der Geist überhaupt keine Rolle, sie besitzen keinerlei Wert; hier zählt allein die Macht, der Stil ist Unterjochung, das Ziel Tod und Vernichtung, jedenfalls das Ergebnis. Obwohl einst alles vom Osten ausging. Das erste große Werk der Wahrheitssuche, König Ödipus, als Leidenschaft gewordene Wahrheit, eine Leidenschaft, die selbst über das Eigeninteresse triumphiert: das war das Verkünden einer neuen Welt, der kreative Auftritt eines Glaubens, der zwei Jahrtausende lang das Schauspiel leitete. Jetzt ist es damit anscheinend zu Ende [...]

Christus existiert – nur nicht in dieser Welt.

Während ich zwischen prächtigen Gebäuden über stille Straßen spazierte [...], dachte ich darüber nach, daß die Kunst völlig überflüssig geworden ist. [...] Was könnte ich heute malen? Was könnte selbst ein genialer Mensch heute malen? Keinen Winternachmittag. Vielleicht gibt es auch keine Winternachmittage mehr. Welche Stimmungen verfestigen sich bei einem Kind heute zu späterer Erinnerung? Ein langer, grauer, nebliger und glücklicher Winternachmittag ist gewiß nicht darunter. Heute muß sich der Künstler – in jeder Gattung der Kunst – »etwas einfallen lassen«, denn in der unkreativen Atmosphäre und im Bewußtsein seiner Überflüssigkeit ist jeder natürliche Trieb gelähmt, jede Originalität gekünstelt.

Der künstlerische Geist heute sucht nicht das außerhalb Stehende zu gestalten [...] der Künstler spricht [...] ausschließlich von sich selbst, um seine Existenz gegenüber der alles hinwegfressenden Totalität zu behaupten, zu erhalten und zu führen [...]


Imre Kertész, Der Betrachter

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