Veröffentlicht in plumbum
Nr. 9, Frühjahr 2008
Wir belauern uns, das Insekt und ich, es rührt sich nicht, wenn ich die Hand so halte, dass der Schatten es bedeckt, es fällt nicht auf Finten herein, es sieht mich nicht, es riecht.
Ich habe einen Käfig gebaut. Zwischen den Stäben ist Platz, ein Zentimeter, anderthalb. Die Schatten der Stäbe sind schöner als die Stäbe, gebogen, sie gehen bis an die Wand. Das Insekt kann zwischen ihnen hinein und hinaus, es ist eine Art Zuhause. Aber nur ich weiß es. Vergleiche mein Leben mit seinem Leben. Ich rieche es nicht. Ich ducke mich, wenn es sich bewegt, auch wenn es gar nicht mich meint, abends unter der Lampe am Tisch. Ich warte, darauf, dass etwas endet, dass etwas beginnt.
Ich höre Nachrichten in dem Radio im Keller, wo der Empfang so schlecht ist, als wäre Krieg. Es knattert, die Stimmen schwanken, verschwinden, kehren zurück, keuchen, drei Takte Marschmusik.
Drei Takte reichen, und schon bin ich in einer Stimmung, die anders ist als ich. Das Radio leuchtet und summt, brummt. Es ist auch eine Art Insekt. Aber ein gutmütiges. Ich kann es an- und abschalten.
– Was willst du mit dem Käfig?, fragt mich A. Ohne Tür?
– Das ist Kunst, das verstehst du nicht, antworte ich, und lasse mich mit ernstem Gesicht den Hügel hinabrollen, den Käfig an mich gedrückt, aber die Stäbe sind doch etwas verbogen. Ich sehe ihn mir genau an, und nach einer Weile gefällt mir der Käfig so noch besser. Als ich aufstehe, ist A. weggegangen.
Das Insekt ist fort. Ich träume von ihm, es kehrt mir den Rücken zu, als sei es beschäftigt, ich schleiche mich davon, ich will nicht stören.
Unter dem Tisch mit der fast bis zum Boden reichenden Decke kann ich mich ausruhen, vom Keller, vom Dunkeln, vom Lauern. Die Schuhe gehen hierhin, dorthin, braune Schnürschuhe, Größe 43, rote Sandalen mit lackierten Nägeln, selten zwei Paar Turnschuhe, an denen sich die Sohlen lösen. Ich mag sie alle nicht. Das Insekt trägt keine Schuhe. Aber das Insekt mag ich auch nicht.
Die Gleise, sagt M., sind die Grenze. Weiter darfst du nicht gehen. Ich verstehe nicht, was das heißt. Eine Grenze kann ich mir nicht vorstellen. Das Insekt sitzt auf dem Einkaufszettel und dreht sich im Kreis. M., rufe ich plötzlich und laufe aus dem Haus. Sie ist nur noch ein kleiner Punkt am Ende der Straße. Ich warte, bis sie in die Allee einbiegt, dann gehe ich hastig auf und ab, zwischen den Kreuzungen, und spiele „erwachsen“.
Es regnet, und ich mache einen Kopfstand. Jetzt rauscht es auch in meinem Kopf. Nach einer Weile aber wird mir schlecht, ich falle um. Mein Körper muss dabei Lärm gemacht haben, denn M. steht plötzlich im Zimmer, ich sehe sie erschrocken an, sie zögert, gibt mir dann schnell doch noch eine Ohrfeige. Sie fegt die Scherben mit dem Besen zusammen. Dann muss ich neben ihrem Tisch stehen, während sie näht, und darf mich nicht bewegen.
Im Käfig sitzt ein Schmetterling. Es stimmt nicht, was alle sagen. Er kam hinein, aber kann nicht mehr heraus. Ich sehe ihn an. Er ist schön, wenn er die Flügel zuklappt. Weiß und schwarz. Auch sein Staub ist schön. Ein feines, graues Pulver. Ich puste in den Käfig, und er fliegt wieder. Ich habe Schmetterlingsstaub im Gesicht. Nun bin ich unbesiegbar und schön.
Ich stehe an den Gleisen und ducke mich ins Gras. Der Zug donnert vorbei. Ich habe trotzdem gezählt. Siebzehn Waggons. Hinter den Gleisen sieht es aus wie bei uns. Ich will die Grenze anfassen, da stoße ich mit dem Insekt zusammen.
Ich schreie und schlage und beiße um mich, als M. mir in der Wanne mit der nassen Hand das Gesicht abreibt. Ich tauche unter und suche mit weit geöffneten Augen auf dem Wannenboden den Schmetterlingsstaub. Plötzlich wird es dunkel. M. reißt mich aus dem Wasser mit bösem Gesicht und trägt mich in mein Zimmer. Ich muss mich allein anziehen. M. steht daneben und sieht mir zu. Ich steige ins Bett. Es ist ganz warm. M. sagt „Gute Nacht“ und wartet. Ich will antworten, aber mein Mund ist aus Stein. Sieht sie es nicht? Ich ziehe die Decke über das Gesicht. M. wartet noch eine Weile, dann geht sie hinaus. Die Decke liegt über mir wie ein toter Flügel. Ich liege still, aber der Flügel wird immer schwerer, ich zappele und werfe ihn ab. Ich knie mich auf den Boden und hole den Käfig unter dem Bett hervor, stelle ihn auf den Flügel, der sich jetzt hebt und senkt. Ich stecke die Finger zwischen den Stäben hindurch in den Käfig. Mehr geht nicht hinein.
Der Arzt sagt, sie braucht noch Zeit. Er meint mich. Zeit, denke ich, habe es aber gleich vergessen, denn hinter dem Vorhang geht die Katze übers Fensterbrett. Ich hocke mich auf den Boden und kann nicht mehr aufstehen. M. muss mich aus dem Sprechzimmer tragen. Auf der Straße setzt sie mich auf die Mauer und geht einfach weiter. Schon bald sehe ich ihre roten Sandalen nicht mehr. Die Katze kommt die Mauer entlang auf mich zu und reibt sich an mir. Die Erde ist unsichtbar weit weg. Ich halte die Katze fest, drücke sie an mich, obwohl sie sich sträubt und mich kratzt.
Nachts sitze ich auf dem Boden vor meinem Bett, es ist still, dass es in den Ohren wehtut, ich fahre mit dem Zeigefinger das Muster des Teppichs ab. Raue warme Stoppeln. Sie braucht noch Zeit. Ein Viereck. Sie – braucht – noch – Zeit. Siebrauchtnochzeit. Siebrauchtnochzeit. Siebrauchtnochzeit. Sie – – braucht – – noch – – Zeit.
Am Morgen weckt mich M. mit dem Fuß. Die Nägel sind frisch lackiert, sie hat noch keine Sandalen an. Ich liege zur Seite gesunken neben dem Bett. M. gibt mir eine Hand, ich stehe auf. Auf dem Teppich ist ein kleines helles Viereck.
Das Insekt ist fort. Auch die Blumen. Auch die Katze. Ich sitze neben den anderen in der Klasse. Ich sehe auf den Rücken vor mir. Er ist gebeugt, als müsse er schwer tragen. Ich habe vergessen, was der Lehrer gesagt hat. Ich traue mich nicht zu fragen.
Der Lehrer steht neben mir, nimmt mein Heft.
– Weißt du nicht, was du tun sollst?
Ich sehe auf den Rücken vor mir, der plötzlich ein helles Gesicht ist. Ich stehe auf.
– Wo willst du hin?
Ich weiß es nicht. Ich renne, die Hände zu Fäusten geballt. Ich bin schneller als alle. Ich kann fliegen.
Sie fangen mich hinter den Gleisen. Es stimmt nicht, es ist keine Grenze, es ist dahinter wie bei uns. Auch für sie ist es keine. Sie gehen einfach hinüber. M. nimmt mich fest am Arm. Es tut weh. Sie blickt starr geradeaus. Sie geht zu schnell. Ich hüpfe im Zangengriff neben ihr.
Die braunen Schnürschuhe, die roten Sandalen. Sie wissen nicht, dass ich unter dem Tisch sitze, auf der Lichtung im Stuhlbeinwald. Ich mache mich klein.
– Meine Geduld ist zu Ende, sagen die roten Sandalen, auf dem Weg zum Sofa. Immerzu stellt sie etwas an. Und nie ein Lächeln, nie ein Dank. Sie ist wie ein Tier. Und mit einem Ruck vor der Kommode: Ich kann nicht mehr.
Jetzt gehen die Schnürschuhe, die stumm neben der Stehlampe standen, auf und ab und brummen.
– Aber wo soll sie denn hin? Sie hat doch niemanden außer uns.
Das ist nicht wahr. Ich habe das Radio. Das Licht und die Stimmen. Ich habe den Käfig. Und das Insekt.
– Was hast du denn gedacht? Dass sie uns ein gesundes Kind geben?!
– Bitte, dann kümmere du dich um sie. Ich habe schon genug Ärger mit den beiden Jungs.
– Wie stellst du dir das vor? Ich muss zur Arbeit.
Die roten Sandalen kommen nah an den Tisch. Ich bin wie ein Wurm, der nicht gefressen werden will, ich ziehe mich zusammen. Bei Vögeln hilft das.
– Und dann brauchen wir auch das Geld.
Die Sandalen machen eine scharfe Wendung und stehen dann Hacken an Hacken neben den Stuhlbäumen.
– Ich weiß. Aber es ist ganz einfach: Wir nehmen ein anderes Kind.
Ich zittere. Vielleicht bin ich wirklich krank, denn mir ist heiß, und trotzdem zittere ich. Auch das Radio kann nicht helfen. Es brummt nur leise vor sich hin. Keine Musik. Beim Essen versuche ich das Zittern zu unterdrücken. Die Suppe tropft aufs Tischtuch. Schnell lege ich den Arm darüber.
– Nimm den Ellbogen vom Tisch.
Ich nehme den Arm vom Tisch, während ich mit der anderen Hand rasch die Serviette über den Fleck decke. Fast wäre das Glas mit der Milch umgekippt.
– Pass doch auf, sagt M. und nimmt das Glas weg.
Ich versuche, gar nichts zu essen, rühre nur vorsichtig im Teller. So wird es nicht weniger.
– Schmeckt es nicht?
– Iss.
Ich versuche zu lächeln, aber sie sieht nicht zu mir herüber.
Das Insekt geht nicht mehr in den Käfig. Es ist gewachsen. Es ist schon größer als meine Hand. Ich frage, wo warst du? Aber es antwortet nicht. Seine Reise muss ihm gutgetan haben.
Ich kaue am Füllhalter. Ich schwanke zwischen elf und siebzehn, beide Zahlen sind sich so ähnlich. A. lacht und sagt: Neun. Ich bin nicht gut im Rechnen. A. lässt mich abschreiben. Ich gebe ihr dafür eine Münze, die ich gefunden habe. Sie lag neben dem Eingang vom Bäcker, ich landete genau davor, als ich hinter M. die Treppe heruntersprang. Ich bekomme eine Fünf, A. eine Zwei. Der Lehrer sieht mich nicht an.
Die Stimmen im Radio sprechen viele Sprachen. Sie sagen nur schöne Dinge. So schön, dass man sie nicht verstehen kann. Manchmal sind sie traurig, dann jaulen sie nur ein wenig und verstummen plötzlich. Eine Weile leuchtet noch das Licht, und ich stelle mir vor, wie die Stimmen auf der anderen Seite der Welt in ihren Betten liegen und miteinander flüstern, so leise, dass außer ihnen niemand etwas hören kann. Das Licht flackert, dann geht es aus. Ich taste mich durch die Dunkelheit. Auf der letzten Stufe der Treppe bleibe ich stehen und lausche. Ich höre M. in der Küche mit dem Geschirr klappern und schlüpfe hinaus. Dann laufe ich einmal ums Haus und komme verschwitzt und mit viel Lärm herein. Morgen muss ich das Radio füttern. Damit ich es nicht vergesse, mache ich mir einen Knoten in den Schnürsenkel.
Ich habe vergessen: Vor dem Schlafengehen muss ich mich waschen, und vor dem Waschen muss ich mich ausziehen. Ich sitze auf dem Boden und ziehe am Schnürsenkel. Der Knoten hat sich festgebissen.
– Wo bleibst du denn, ruft M.
Ich zerre am Schuh. Endlich bekomme ich ihn vom Fuß, schnell das Kleid über den Kopf und die Wäsche aus. Lächeln kann ich jetzt nicht mehr.
A. sagt, sie will nicht mehr mit mir spielen. Ich sei so anders. Wie anders, frage ich. Na so, sagt A. und lässt sich den Hügel hinunterrollen. Ich mache aus Daumen und Zeigefinger einen Ring und blicke ihr hinterher. Noch eine Münze habe ich nicht.
Ich gehe wie ein Seemann die Straße zum Haus. Schlurf, plock, schlurf, plock. M. hat den Schnürsenkel aufgeschnitten. Jetzt kann man ihn nicht mehr zubinden. Aber so erinnert mich jeder Schritt, dass ich das Radio füttern muss. Ich schleiche in die Küche. M. ist nicht da. Ich ziehe die Schublade hinter der Tür auf. Dort, unter dem Wirtschaftsgeld, liegen die kleinen schweren Tonnen mit dem Saft, wie W. sagt. Plötzlich knallt die Schublade zu. Der Mittelfinger der rechten Hand war zu langsam, der Schmerz betäubt mich, so dass ich von dem, was M. mir ins Gesicht schreit, nichts verstehe. Sie zieht meine Hände nach vorn, dreht die Handflächen nach oben und biegt gewaltsam die Finger auf. Die Hände sind leer. Sie greift in die Taschen meines Kleids und wendet sie um. Ein dreckiges Taschentuch, eine blaue Schnur, zwei Steine und ein kleines Foto fallen zu Boden. Ich sehe in M.s rotes Gesicht. Sie nimmt mich im Nacken und schleift mich aus der Küche in mein Zimmer. Ich verliere meinen rechten Schuh. Sie wirft ihn mir hinterher, knallt dann die Tür zu. Ich höre, wie sie den Schlüssel zweimal umdreht.
Ich liege unterm Bett. Hier ist alles voller Staub, aber kein Schmetterlingsstaub, ich kann nicht mehr fliegen. Das Insekt hockt mir gegenüber auf dem Teppich. Es ist groß, größer als ich. Es hat sich den Schatten des Schranks um die Schultern gezogen. Wir bewegen uns nicht. Wir belauern uns.
– Komm, sagt W. und nimmt meine Hand. M. greift nach dem Koffer. Ich mache mich los und hole den Käfig. M. will, dass ich ihn dalasse. Ich nicht. Sie nimmt ihn mir weg. Ich nehme ihn wieder und halte ihn so fest, ich kann.
Ich sitze mit dem Käfig auf dem Schoß auf der Rückbank des Autos. Es schneit schwarzweiße Schmetterlinge, der Scheibenwischer schaufelt sie von der Windschutzscheibe. So viele Schmetterlinge gab es noch nie, sagt das Insekt. Ich wundere mich nicht, dass es sprechen kann, ich nicke. Ich habe keine Angst. Damit ich die sterbenden Schmetterlinge nicht sehen muss, blicke ich hinunter in den Käfig. Schläfst du, fragt das Insekt. Ich schüttle den Kopf. Ich beuge mich über den Käfig, presse das Gesicht gegen die Stäbe, im Käfig leuchtet es warm. Plötzlich sehe ich: Es ist das Radio. Wie ist es da hineingekommen? Es brummt, eine Stimme rudert gegen die Wellen, drei Takte Marschmusik. Ich bin nicht mehr allein. Ich bin froh. In meinem Kopf summt es. Noch ein bisschen, und ich kann ihn zwischen den Stäben hindurchschieben, der Kopf ist das dickste, alles andere folgt leicht. Ein warmes Summen umgibt mich. Dunkelheit.