Richard Bühle »Mein Tagebuch«

24.06.2008 Sprache/Meta

Richard Bühle »Mein Tagebuch«Rezension

Leipziger Kindheit 1865 – Das Tagebuch des Richard Bühle
Die Lektüre ist eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert


Mit „Prosit Neujahr!“ beginnt ein Dreizehnjähriger am 1. Januar 1865 sein Tagebuch. Es ist bereits sein zweites, er hat also schon Erfahrung mit dem Schreiben, und dennoch erstaunt es, wie diszipliniert und ausdauernd er daran arbeitet. Nahezu täglich gibt er seine Erlebnisse wieder und fügt seinen Beschreibungen zudem detaillierte Zeichnungen und Planskizzen bei, die er mit ausführlichen Legenden versieht.

Richard Bühle heißt der junge Tagebuchschreiber, er wurde am 14. Januar 1852 in Leipzig geboren und lebt mit Vater, Mutter und jüngerem Bruder in der 3. Etage eines Mietshauses in der Klostergasse 14. Neben der Hausbesitzerin und mehreren Kaufleuten sind dort auch ein „pract. Arzt und Geburtshelfer“, ein Schriftsetzer und ein „Meubleur“ heimisch. Ein eher bescheidenes Wohnumfeld, typisch für Leipzigs arbeitsamen Mittelstand jener Zeit.

Vater Bühle, Inhaber eines „Papier- und Cigarrengeschäfts“, hat Werkstatt und Verkaufsraum im Parterre, die Kinder müssen, wie die Mutter, manchmal am Abend und vor allem in der Messe- und Weihnachtszeit aushelfen. Es gibt ein Dienstmädchen und einen Lehrburschen, und im Sommer kommen die „lieben“ Großeltern aus Köthen auf mehrere Monate zu Besuch.

Die Lektüre ist eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert, in die Kindheit und beginnende Pubertät eines Jungen aus dem Leipziger Mittelstand, jedoch, und das ist das Besondere, nicht in eine Kindheit, wie sie ein Erwachsener im Nachhinein reflektiert und beschreibt, nicht aus der Distanz betrachtet, geglättet und verwandelt, sondern unmittelbar aus dem Erleben heraus mitgeteilt – den Alltag begleitende Niederschrift, weder Erinnerung noch Kommentar.

Das Haus, ein Bau aus dem 18. Jahrhundert, wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört und später nicht wieder aufgebaut. Wie so viele Spuren ging auch diese verloren. Doch das Tagebuch blieb auf wunderbare Weise erhalten und konnte 1980 vom Stadtgeschichtlichen Museum aus dem privaten Nachlass einer in Leipzig ansässigen Familie erworben werden. Dem Lehmstedt Verlag und der peniblen Arbeit der Herausgeberin Brigitte Richter ist es zu verdanken, dass es transkribiert wurde und nun, um 24 Faksimiles bereichert, in gedruckter Form vorliegt.

Dem Leser erlaubt dieses Tagebuch einen Blick in den kindlichen Alltag in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und es räumt mit etlichen Vorstellungen auf, die man sich so über diese Zeit und das in ihr herrschende Verhalten von Kindern, insbesondere ihr Verhältnis zu den Erwachsenen und der Erwachsenen zu ihnen, macht.

„Donnerstag, den 13. Juli. Ich war wieder, Gott sei Dank, wol auf; daher ging ich auch wieder mit Roch, Oskar, Vogel, August, Schuhan und Hirsch in die Nonnenmühle baden. Dr. Quell war auch da, und es gab furchtbaren Unsinn. Roch und ich gingen immer gegen Dr. Quell und spritzten ihn so zusammen, daß er einmal rief: „Ihr Jungens, wollt Ihr Euern Lehrer nicht so spritzen!“ Um 7 Uhr gingen wir.“ Und in Gabelsberger Stenographieschrift – für die Augen unbefugte Mitleser nicht zu entziffern – fügt Bühle hinzu und es klingt erleichtert: „Der Vater ist ab morgen auf Reise.“ Da können die Späße noch mal gesteigert werden.

Denn der Vater Richard Bühles ist streng und lässt den Kindern nicht so viel durchgehen; trotz mancher Vergnügung, die er gestattet, sieht er es nicht gern, wenn sie ins Theater gehen, obwohl es den Söhnen so viel Freude macht. Aber dazu ist die Großmutter da, die gleich die Abwesenheit des Vaters ausnutzt, um die Enkel auszuführen:

„Dienstag, den 27. Juni. Einen so schönen Abend wie heute habe ich noch selten erlebt. Da nemlich der Vater verreist war, ging die Großmutter mit uns beiden in das Theater. Es wurde ‚der Freischütz‛ gegeben. Es war prachtvoll, herrlich. Vor allem the second sce-ne worin ‚Die Wolfsschlucht‛ darin vorkam. Die Haare standen uns zu Berge, als wir das sahen. Es waren 3 scenes gewesen. Um 9 war es aus. Und Glück! Er war noch nicht zu Hause. Nein, war das schön!! Denn der Vater leidet es schon gar nicht, daß wir in das Theater gehen.“

Der Vater ist praktisch-pragmatischer Natur, Anhänger der Reformbewegung, er schickt seine Kinder ins Ziische Institut, eine Schule, in der sie moderne Fremdsprachen und Stenographie lernen, nicht Latein und Griechisch. Und er gibt den Kindern immer eigenes Geld in die Hand, keine großen Summen, aber doch so viel, dass sie allein oder mit den Freunden etwas unternehmen, einander Geburtstagsgeschenke kaufen, auf ihren Ausflügen oder nach dem Herumtoben in der Stadt irgendwo einkehren und etwas essen und trinken können. Sie lassen sie auf eigene Kosten kaputt Gegangenes reparieren oder nach eigenen Entwürfen verbessern (ihre Schlittschuhe) und Verlorenes (Badehosen) ersetzen. Dieses Zutrauen, dass die Eltern in die Lebenstüchtigkeit ihrer Kinder haben, erstaunt – und es erstaunt auch, welchen Erfahrungen sie sie aussetzen:

„Mittwoch, den 19. April. Heute früh ging ich mit Oskar in Gerhards Garten, und es gab sehr viel Unsinn da. Nachmittags sind wir: Oskar, August, Curt und Paul Tittel und ich auf die Promenade gegangen und haben Freischlagen gespielt. Ich sprang einmal ins Gebüsch, da packte mich ein Rathsdiener, fragte mich aus und führte mich zum Vater. Der sagte aber, der Rathsdiener solle mich mit auf die Polizei nehmen; und richtig, ich wurde auf den Naschmarkt gebracht. Nachdem der Esel von Rathsdiener die meldung beim Corporal gemacht hatte, wurde ich zum Dr. Hempel geführt; jedoch nicht hinein, sondern ich mußte draußen warten. Bald kam der dußlige Rathsdiener wieder heraus und entließ mich. Aber Adieux habe ich zu den [!] Kerl nicht gesagt. Dr. Hempel ist übrigens zehnmal gescheidter als der dumme Rathsdiener, denn er hat mich gleich wieder laufen lassen, denn um so einen Dreck arretiert man keinen. Der Vater hat aber Abends gar nicht gezankt sondern gelacht.“

Das sind raue Erziehungsmethoden, und im ersten Moment ist man vielleicht schockiert, aber dann stellt man sich schon die Frage, um wie viel Kinder, die heute aufwachsen, betrogen werden, eingezäunt auf Spielplätzen und nicht aus den Augen gelassen von Eltern, Lehrern, Erziehern, ohne Freiraum für Streiche und Abenteuerlust, Kräftemessen und Rangeleien. Und auch ohne die Erfahrung der Konsequenzen, die ihr Handeln haben kann.

Dass Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung Folgen der Bewegungsarmut, der immer eingeschränkteren räumlichen Möglichkeiten für Heranwachsende sind, dass also, wie so häufig, ein gesellschaftliches Problem nicht als solches definiert, sondern als Krankheit an Einzelnen diagnostiziert und behandelt wird, führt einem dieses Buch vor Augen. Was wird da nicht alles getobt und gekämpft, über Land gegangen und Manöver beobachtet, Schlittschuh gelaufen und gebadet und Kahn gefahren! Und es geht manchmal ganz schön wild zu. Die Kinder stehlen Obst, laufen ihrem Lehrer bei einem Schulausflug davon, so dass er nur mit zwei Schülern zurückkommt, werfen Scheiben ein, bauen Schneeburgen und bekriegen sich ordentlich. Denn der junge Bühle ist ein Raufbold, Mitglied einer Straßenbande, die nach Schulschluss gegen die Dorfkinder loszieht, dabei ordentlich austeilt, aber auch manches einzustecken hat:

„Mittwoch, den 25. October. [...] Da wurde mir meine Mütze vom Kopfe geschlagen und indem ich mich schnell danach bückte, sah ich noch, wie einer mit einer Kartoffelhacke nach mir ausholte und bekam nun einen fürchterlichen Schlag auf die Stirn und im selben Augenblick regnete 1 Dutzend Sekunden lang ein fürchterlicher Steineregen auf mich herab, worunter Steine von der Größe eines Kopfes, Ziegel- und Mauersteine alles durcheinander, wovon mich denn auch so mancher traf. [...] Ich fühlte an die Stirn, aber es war fast schlimmer als wie ich es erwartete, dazu war eine schreckliche Brausche auf der Stelle geworden [...] Eine andere geringere Brausche hatte ich rechts am Hinterkopf [...] Mehreremale drangen wir wieder vor, aber es war uns nicht möglich, den Exzerzierplatz zu stürmen, da jedesmal der Himmel schwarz wurde, so viel Steine schleuderten sie herab [...]. Da kamen zwei Damen, und ich, Mensche, Meister und noch einige andere schlichen sich hinter dieselben [...], da wir hofften, die Gohlisser würden doch nicht auf die Damen werfen. Aber [sie warfen] auf uns und die Damen, welche in die größte Gefahr kamen, von den Steinen getroffen zu werden und wir daher von unserm Vorhaben abließen. [...] In der Nacht schlief ich sehr schlecht, denn wenn ich mich auf die linke Seite legte, so that mir die Brausche vorn wehe, und wenn ich mich auf den Rücken legte, so schmerzte mir die Brausche am Hinterkopf [...]. – Übrigens haben die Eltern von meinen Brauschen nichts bemerkt, da ich so lange gedrückt und gepreßt hatte, daß die Brausche bedeutend gefallen war, ich dann die Haare darüberlegte, und am Abend man es sowieso nicht gut erkennen konnte.“

Das ist etwas anderes als die von konservativen Kreisen so gern zurechtgeschminkte Vergangenheit zur Idylle, in der alle sittsam und wohlerzogen um den Familientisch saßen und aus dem Grimmschen Wörterbuche lasen oder Hausmusik machten. Die Lektüre widerspricht dem Bild, das der Titelzeichnung des damals und anscheinend noch heute, in der Erinnerung, beliebten Familienblatts „Die Gartenlaube“ entnommen zu sein scheint, nach dem es für alle eine gleich große und ausreichende Portion Liebe gab und keine Konflikte zu bewältigen waren, demzufolge sich niemand Sorgen um sein Auskommen zu machen brauchte, um ein Abrutschen in die Armut – denn damals war ja jeder seines Glückes Schmied, und wer nur hübsch fleißig war, konnte es zu etwas bringen und brachte es zu was. Dieses Bild der Konservativen, die sich noch immer nach der guten alten Zeit sehnen, die es nie

gegeben hat, wird bei der Lektüre dieses Jugendtagebuchs gründlich der Boden entzogen. Und man ist froh darüber, denn um wie viel lebendiger ist, was man hier liest und erfährt, keine heile Welt baut sich da auf, sondern eine in der es Geldsorgen und Hunger gibt, elterliche Strafen und Geschenke, Prügeleien und Schneeballschlachten, aber auch, „juchhei“, die „lieben Großeltern aus Cöthen“.


Richard Bühle: »Mein Tagebuch«. Aufzeichnungen eines Dreizehnjährigen aus dem Jahre 1865. Mit 24 Faksimiles. Herausgegeben von Brigitte Richter. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2007. 208 Seiten, Abbildungen. 19,90 Euro

Die Berliner Literaturkritik, 24. Juni 2008

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