Journalismus
Weltberühmt geworden ist sie als Freundin, Vertraute und Übersetzerin Franz Kafkas, dabei war Milena Jesenská so viel mehr. 1896 in eine bürgerliche Prager Familie hineingeboren, ging sie mit Anfang zwanzig nach Wien, schrieb Reportagen für tschechische Zeitungen über das Nachkriegselend, die Inflationsarmut und begann zu übersetzen. Mit knapp dreißig hatte sie ihren eigenen Stil entwickelt und sich als Journalistin einen Namen gemacht, sie kehrte nach Prag zurück, begleitete, analysierte, beschrieb in ihren Zeitungstexten die Industrie-Moderne, die Massengesellschaft, die junge tschechische Demokratie, die neue Frau. Mit der Weltwirtschaftskrise änderte sich das liberale Klima, auch in der Tschechoslowakei wurden Gesellschaft, Politik, Kultur einerseits konservativer, andererseits linksradikal. Jesenská trat der kommunistischen Partei bei; da sie jedoch weder Dogmatikerin noch Stalinistin war, verlor sie schon bald ihre Posten in den Parteiorganen und machte entbehrungsreiche Jahre durch. Erst 1937 fand sie zum Journalismus zurück. Für das Politik-Ressort der liberal-demokratischen Wochenzeitschrift »Přítomnost« schrieb sie eine gründlich recherchierte Artikelserie zur Lage des sogenannten Sudetenlandes unmittelbar vor und nach dem Münchner Abkommen sowie einfühlsame Berichte über die nur wenige Monate später erfolgte Okkupation des verbliebenen tschechoslowakischen Staatsgebiets. Diese Texte gehören zu den eindrücklichsten des Auswahlbandes »Prager Hinterhöfe im Frühling«, den die Jesenská-Kennerin Alena Wagnerová zusammengestellt und Kristina Kallert übersetzt hat. Beim Lesen taucht man nicht nur tief in das Geschehen jener angespannten Jahre und Tage ein, sondern bekommt vor allem ungeheure Hochachtung vor der Haltung unserer nahen fernen böhmischen Nachbarn.
Milena Jesenská: »Prager Hinterhöfe im Frühling«. Feuilletons und Reportagen 1919–1939. Hg. v. Alena Wagnerová. Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert. Wallstein, 416 Seiten, 32 Euro
FAS Nr. 52, 27. Dezember 2020, Feuilleton Seite 42