Verstaubte Männer
Die französische Schriftstellerin Colette war eine beeindruckende Frau, in Frankreich ist sie eine Ikone, Mitglied der Académie Goncourt, Ritter der Ehrenlegion, mit einer Pléiade-Ausgabe geehrt; hierzulande ist sie zwar dem Namen nach bekannt, wird aber oft falsch eingeschätzt, da nur vage Vorstellungen von ihrem aufregenden, für ihre Zeit skandalträchtigen Leben durch die Köpfe wehen, sie aber kaum gelesen wird. Jetzt ist der autobiographisch grundierte Roman „La Vagabonde“ in einer von Judith Petrus überarbeiteten Übersetzung von Grit Zoller in schöner, schlichter, handlicher Neuausgabe bei Ebersbach & Simon erschienen, und dieser Roman hat es wirklich in sich. Als Colette ihn schrieb, hatte sie sich gerade von ihrem ersten Mann scheiden lassen, trat, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als Varietétänzerin auf, und beide Leben, das alte und das neue, finden im Roman ein psychologisierendes Echo, das anrührt und verblüfft, weil da eine Frau nicht schreibt, was andere hören wollen, sondern was sie denkt und fühlt. Manchmal sind es nur kleine, banal erscheinende Alltagsbeobachtungen oder -handlungen, die aber in der Summe einen Eindruck vom Leben jener Jahre verschaffen, wie man ihn sonst nirgends findet. Kaum zu glauben, dass der Roman schon 1910 erschien – so modern wirkt er. Nur die Männer, die Männer wirken verstaubt. Aber das liegt nicht an Colette. Die waren so, hatten noch einen langen Weg vor sich.
Colette: »La Vagabonde«. Roman. Aus dem Französischen von Grit Zoller. Neu bearbeitet von Judith Petrus. Ebersbach & Simon, 272 Seiten, 22 Euro
FAS Nr. 14, 11. April 2021, Feuilleton Seite 42