Dichten
Seit 1989 lebt die Dichterin Dorothea Grünzweig in Finnland. Erst war sie Lehrerin in Helsinki, dann zog sie in ein südfinnisches Dorf. Inzwischen ist sie dort tief verwurzelt, vertraut mit den Mythen, der Sprache, und ist doch immer noch die Fremde, die einen anderen Blick hat auf Menschen, Tiere und Landschaften, auf die fast sonnenlosen, bitterkalten Wintertage und die helle, schwebende Mittsommerzeit. In diesem Fremdsein Grünzweigs spiegelt sich unser aller Fremdsein in der Welt, die die unsrige ist und doch nur in seltenen Augenblicken uns selbstverständlich gehört, nämlich nur dann, wenn wir die Grenzen der Beobachtung, der Beschreibung übersteigen, uns dem Seienden fließend anvertrauen. Eine Bewegung, die wohl jede der Natur zugewandte, empathische Dichtung vollzieht, indem sie in und mit der Sprache die Welt im Großen wie Winzig-Kleinen noch einmal zu erschaffen versucht, in all ihrer Schönheit, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Grünzweigs Gedichtband »Plötzlich alles da« ist die magische Anrufung einer Schamanin, die den neues Leben schaffenden Tod akzeptiert, nicht aber die umbarmherzige, willkürliche Zerstörung. Viel Schmerz und Trauer, Wut stecken in diesen Versen, viel Schönheit auch, nur wenig Trost und Hoffnung.
Dorothea Grünzweig: »Plötzlich alles da«. Gedichte. Wallstein, 140 Seiten, 24 Euro
FAS Nr. 48, 29. November 2020, Feuilleton Seite 46