Für die Tasche
Ganz im Osten Polens gibt es eine Straße, die die Nummer 816 trägt. Lange Zeit fuhren auf ihr nur Pferdefuhrwerke, dann Busse und Traktoren durch Schlamm und Staub. Seit bald fünfzig Jahren ist sie geteert, aber immer noch hat sie keinen Mittelstreifen, dafür ist sie einfach zu schmal. Die größte Besonderheit der 816 jedoch ist, dass sie zwar Abzweige nach Westen kennt, aber keinen nach Osten. Denn sie führt, von Süden nach Norden, immer an der Ostgrenze Polens entlang, und auf der anderen Seite, im Osten, liegen Weißrussland und die Ukraine. Die Europäische Union aber und mit ihr Polen hat diesen Ländern den Rücken zugekehrt. Und der Grenzfluss Bug, dem die Straße über viele hundert Kilometer in all seinen Windungen folgt, unterstreicht diese Geste noch: Hier ist die Welt zu Ende.
Selbstverständlich ist sie das nicht. Es gibt nicht nur Schlupflöcher im Grenzzaun, durch die Bier und Zigaretten geschmuggelt werden, sondern auch eine gemeinsame Geschichte. Jahrhundertelang gehörten die Gebiete auf beiden Seiten der Straße zu wechselnden Reichen: der Kiewer Rus, dem Königreich Polen, dann Polen-Litauen, der Habsburger-Monarchie. Die Grenzen wanderten, die Bewohner aber blieben, wo sie waren, und lebten zusammen: Polen, Deutsche, Litauer, Ukrainer, Russen und Juden bildeten einen Vielvölkerstaat, in dem Religionsfreiheit garantiert war. Erst das 20. Jahrhundert beendete die weitgehend friedliche Koexistenz. Umsiedlungen, Pogrome, Massaker, Vernichtungskrieg sowie die Deportation und Ermordung der Juden löschten die jahrhundertealte gemeinsame Kultur aus.
Auf Spuren der in nur einer Generation zerstörten Vergangenheit stößt der Kulturwissenschaftler und Ornithologe Michał Książek auf seiner Wanderung die 816 entlang überall: orthodoxe Kirchen, die in katholische verwandelt wurden, Friedhöfe mit kyrillisch beschrifteten Grabsteinen, das Vernichtungslager Sobibór. Książek schaut, »aufmerksam und langsam«, er ist ein guter Beobachter; was er unter Vögeln und Insekten gelernt hat, wendet er auch auf die Menschen, ihre Behausungen und ihre Kleidung, ihre Tätigkeiten, ihre Sprache und Sprechweisen an. »Beobachten«, schreibt er, »soll man so, als sähe man zum ersten Mal im Leben.«
Aber beim Beobachten bleibt Książek nicht stehen. Er verbindet das Beobachtete mit der Betrachtung, das Phänomenologische mit der Reflexion. Daraus entstehen Miniaturen, die wie knappe Essays wirken, sprachlich beeindruckend und mit langer Nachwirkzeit. Und so ist seine »Wanderung durch Polen« ist viel mehr als das – nämlich der Versuch, die Frage zu beantworten, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Michał Książek: »Straße 816 – Eine Wanderung in Polen«. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. S. Fischer, 272 Seiten, 22 Euro
FAS Nr. 11, 17. März 2019, Reise Seite 54