Verkehrte Welt
Mit bitterschwarzem Humor erzählt Tatjana Gromača in ihrer grotesk-autofiktionalen Erzählung »Die göttlichen Kindchen« (Stroux Edition, 20 Euro) von den monströsen Auswirkungen der Jugoslawien-Zerfall-Kriege in den Neunzigerjahren. Für manche der ehemals in vermeintlicher Eintracht lebenden Bewohner, wie die Mutter der Erzählerin, sind die Abgründe, die sich zwischen Kollegen, Nachbarn, Freunden auftun, die Lügen und Verbrechen so unerträglich, dass sie ihnen nur durch totale Leugnung begegnen können. Die Mutter flieht in einen »Dornröschenschlaf«: Sie entwickelt eine starke Depression und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Ihre Tochter protokolliert, kommentiert und interpretiert die Zustände dort wie auch die in der sogenannten »Normalität«, setzt beide ins Verhältnis, schon bald erscheint das »Irrenhaus« als ein Ort des Friedens und der Menschlichkeit, während in Stadt, Supermarkt und auch in der elterlichen Wohnung nichts als Propaganda, gegenseitige Bespitzelung und Denunziation herrschen.
Gromača zeigt, dass die Ursachen für die Verbrechen der Gegenwart weit in die Vergangenheit zurückreichen: unterdrückte geschichtliche Erfahrungen, eine auf Repression und Macht beruhende Erziehung. Doch wie sie das macht, wie sie erzählt, hat nichts von Zeigefinger und schlichter Pädagogik, sondern ist voll subversiver Ironie und zielsicherem Sarkasmus. Eine klassische Verkehrte-Welt-Erzählung – sensationell gut geschrieben und sehr zu Recht 2013 in Kroatien mit dem Preis des »Romans des Jahres« ausgezeichnet.
Tatjana Gromača: »Die göttlichen Kindchen«. Aus dem Kroatischen von Will Firth. Stroux Edition, 132 Seiten, 20 Euro
FAS Nr. 14, 9. April 2023, Feuilleton Seite 38