Spektakulär unprotzig
Wo liegt das sogenannte »Tel Aviv des Nordens«? Ein Spaziergang durch das mährische Brünn mit seiner einzigartigen, schwebenden Architektur
Schon auf dem Bahnhofsvorplatz von Brünn gerät man, noch gar nicht richtig angekommen, ins Staunen. Die Anmut des mährischen Funktionalismus begrüßt die Besucher in Form des zweistöckigen Čedok-Gebäudes, von Oskar Poíska 1928 erbaut, ehemals Herberge, dann Reisebüro, mit seiner charakteristischen schiffsbugartigen »runden Ecke«. Und nahe der Mündung der Česka-Straße ins Tram-Paradies Joštova, wo ganz Brünn sich zum Flanieren und Einkaufen trifft, findet sich das »schmalste Hotel Europas«, das »Hotel Avion« von Bohuslav Fuchs: ein achtgeschossiger Stahlskelettbau, der dank seiner genialen Konstruktion zur Inspirationsquelle für die Zeitgenossen wurde und bis heute eines der funktionalistischen Architekturjuwele der mährischen Stadt ist.
Davon hat die Stadt viele: 441 Gebäude listet das »Brünner Architekturmanual« (BAM) auf, eine Internetdatenbank zu den zwischen 1918 und 1945 entstandenen Bauten und ihren Architekten. In kurzen Texten, die auf Tschechisch, Deutsch und Englisch abrufbar sind, liefert das BAM baugeschichtliche und biographische Informationen, dazu versammelt es Hunderte Fotos, Karten und Pläne. Jedes Gebäude ist mit einem Code versehen, der sich als Markierung auch auf dem Gehsteig vor den realen Bauten wiederfindet. Und da alle Internettexte gleichzeitig als Audio-Aufnahme verfügbar sind, lassen sich mit Smartphone und Kopfhörern bequem ausgedehnte Architekturspaziergänge in der »Stadt der weißen Moderne« unternehmen.
Dass in den beiden Zwischenkriegsjahrzehnten so viel Erstaunliches, Wegweisendes gebaut werden konnte, verdankt Brno der glücklichen Verbindung aus Aufbruchstimmung nach Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918 und Ausweitung der Stadtgrenzen, wodurch eine Großstadt mit immerhin knapp einer Viertel Million Einwohnern entstand. Es herrschte Wohnungsmangel, worauf die Stadt einerseits mit der Erschließung eines südwestlich des Zentrums gelegenen Hügels reagierte, auf dem die betuchteren Einwohner sich repräsentative Villen bauen ließen, das »Tel Aviv des Nordens«. Andererseits wurden für Arbeiter und Angestellte Sozialbauten errichtet, dazu Schulen und Krankenhäuser, Universitätsgebäude und Bibliotheken, Studentenwohnheime, Bäder und Sportanlagen.
Brünn – mit 380.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Tschechiens – beeindruckt nicht mit Größe, sondern mit Urbanität. Die Bauten sind schlank, leicht, wirken oft wie schwebend und zeigen eine Vorliebe für abgerundete Ecken, gebogenes Glas, geschwungene Treppen, flügelförmige Balkons, Glasbausteine, Über-Eck-Fensterbänder, schiffsdeckartige Dachterrassen, grazile Geländer und Oberlichtpassagen. Nur zweimal gab es Pläne, im Stadtzentrum Hochhäuser zu bauen. Der leicht größenwahnsinnige Schuhhersteller Bat’a plante Mitte der 1920er Jahre einen 23 Stockwerke hohen Hybrid aus Kaufhaus und Verwaltungssitz, der das damals höchste Gebäude Europas zu werden versprach. Der beauftrage Architekt, Vladimír Karfík, hatte Erfahrungen bei Frank Lloyd Wright gesammelt, und sein Entwurf wurde enthusiastisch begrüßt; der schwierige Brünner Baugrund setzte dem Vorhaben jedoch bereits nach dem achten Geschoss ein Ende. Ein ähnliches Schicksal ereilte Bohuslav Fuchs’ Alfa-Palast, auch dort war nach acht, statt der geplanten 14 Stockwerke Schluss.
Zum Glück, muss man sagen, denn Gigantismus passt nicht zu Brünn. Nur zwei Gebäude der Innenstadt haben sich nicht an diese Bescheidenheitsregel gehalten: das Janáček-Theater (das Brünner Opernhaus), ein klassizistisch-funktionalistischer Hybrid aus den 1960er Jahren. Und der berühmteste Bau der klassischen Moderne, seit 2001 Unesco-Weltkulturerbe: die Villa Tugendhat von Mies van der Rohe. Dem Architekten wurden, was die Bau- und Ausstattungskosten betraf, nahezu keinerlei Schranken auferlegt, und so war der realisierte Entwurf eine Adaption des für die Weltausstellung in Barcelona gebauten Deutschen Pavillons. Doch was als Ausstellungsgebäude überzeugt, irritiert, wenn es mit aufgesockelten aseptischen Kinderschlafzimmern und eingebauter Chauffeurswohnung daherkommt. Mit seiner abweisenden Straßenfront hat der langgezogene Bau zudem nichts vom einladenden Geist Brünns.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat Brünn sich nicht nur um seine jüngere architektonische Vergangenheit gekümmert, viel saniert, rekonstruiert und sogar wiederaufgebaut. Die Stadt hat auch mit spektakulär unprotzigen, funktional-eleganten Gebäuden an ihre Glanzzeiten angeknüpft. Der Neubau der Mährischen Landesbibliothek beeindruckt durch seine übersichtliche, selbsterklärende Benutzerfreundlichkeit. Und das alte Freibad auf der Kraví Hora, einem nahe der Stadt gelegenen Ausflugshügel, bekam eine Schwimmhalle an die Seite gestellt, bei der fast alles aus Glas ist, selbst die Geländer, was einen phänomenalen Rundumblick erlaubt. Den schönsten Neubau aber haben Architekten aus Brünn der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität geschenkt. Der Campus ist ein modern interpretierter Klostergarten, der die älteren Gebäude mit dem 2001 fertiggestellten gläsernen Bibliotheksquader mit sichtbarer Stahl-Beton-Konstruktion verbindet. Dessen Kombination aus Lesesälen und dem durch ein ovales Oberlicht beleuchteten Treppenhaus aus Sichtbeton beeindruckt und ist doch ganz unprätentiös. Im Innenbereich findet man Ruhe und Konzentration für die geistige Arbeit, draußen einen terrassierten Garten mit großem Wasserbecken für Kontemplation und Entspannung.
Hier sitzend, während man die plaudernden, lesenden, und ja, auch schlafenden Studenten beobachtet, lässt sich gut darüber nachsinnen, was diese Stadt zu einer so lebenswerten macht. Es ist nicht die Architektur allein, die Brünn auszeichnet, sondern auch seine Größe und Lage, seine Lebendigkeit und sein kulturelles Angebot. Und die Tatsache, dass es langsam über die Jahrhunderte wachsen konnte und im letzten Krieg kaum zerstört wurde, und so, bei aller Veränderung, seinen Charakter bewahrt hat. Die Architektur, gerade die jüngere, aber hat daran ihren Anteil. Und diesen zu erkunden ist Brünn jede Reise wert.
Anreise Mit dem EC, der von Hamburg nach Budapest fährt, über Berlin, Dresden, Prag. Es dauert, aber die Landschaft ist abwechslungsreich und der tschechische Speisewagen immer einen Besuch wert; von Berlin nach Brno mit Bahncard 25 Sparpreis ab 24,90 Euro pro Person, Fahrzeit: siebeneinhalb Stunden.
Unterkunft »Grandezza Hotel Luxury Palace«, zentral gelegen am Gemüsemarkt, luxuriöses Boutique-Hotel mit handbemalter Glasdecke und Marmormosaiken, Zelný trh 314/2, 60200 Brno, grandezzahotel.com, ab 105 Euro/Nacht im DZ. »Maximus Resort«, mit Pools, Sauna- und Wellnessbereich, an der Brünner Talsperre gelegen, Hrázní 4a, 63500 Brno, maximus-resort.cz, ab 108 Euro/Nacht im DZ/Frühstück. Hostels: »Mitte«, die Zimmer und Apartments sind alle Brünner Berühmtheiten gewidmet – Kundera, Gödl, Fuchs – und entsprechend eingerichtet, mit gemütlichem Café, Panská 11, 60200 Brno, hostelmitte.com. »Fléda« über dem gleichnamigen Musikclub, Štefánikova 24, 60200 Brno, hostelfleda.com.
Architektur Das »Brünner Architekturmanual« listet 441 Gebäude auf: bam.brno.cz.
Weitere Informationen unter gotobrno.cz/de/
FAS Nr. 42, 20. Oktober 2019, Reise Seite 52