Grace Paley »Manchmal kommen und manchmal gehen«

27.07.2018 Sprache/Meta

Grace Paley »Manchmal kommen und manchmal gehen«Rezension

Zärtlichkeit für die Welt
Die amerikanische Dichterin Grace Paley ist eine große Liebende


Gibt es eine zärtlichere, größere Zärtlichkeit ausströmende und mit Zärtlichkeit ansteckende Dichterin als Grace Paley? Zärtlichkeit nicht für dieses und jenes (den Ehemann, die Kinder, die Eltern, die Nachbarn und Freunde, den Garten, sich selbst), sondern für alle und alles, die ganze Schöpfung? Und das weder pathetisch grundiert noch sentimental oder kitschig und auch nicht romantisch? Sondern voller Witz, Selbstironie, Schmerz, Liebe, Hingabe, Traurigkeit, Lebenslust, Übermut, lachend über das Unglück, die Gebrechen des Alters, aber weise lachend, wissend, annehmend, nie herablassend, gar hämisch?

Mir fällt nur einer ein, der das Leben so gefeiert hat in seiner Lyrik, der so hymnisch-alltäglich dichtete über alles, was er sah, schmeckte, roch und fühlte: Walt Whitman. Grace Paley geht in seinen Fußstapfen, aber sie weitet sie, denn sie ist eine Frau und zweifache Mutter, und sie kommt von fernher, aus einer jüdischen Familie, die 1905, nach der gescheiterten Revolution, sich vor den Pogromen aus der Ukraine nach Amerika rettete.

Ihre Eltern schrieben sich noch Gutseit, das wurde bei der Ankunft anglisiert, und als Grace Goodside kam das Nachzüglerkind, das zwei wesentlich ältere Geschwister hatte, 1922 auf die Welt und wuchs in der Bronx auf. Der Vater hatte sich hochgearbeitet, praktizierte als Arzt, was nach ersten bitterarmen Jahren einen gewissen, Sicherheit gebenden Mittelschichtswohlstand erlaubte. Grace besuchte die Schule, ging mit sechzehn aufs College und dann auf die New York University, machte aber keinen Abschluss. Anfang der Vierziger saß sie in einem Kurs, den der Dichter W. H. Auden gab, er las ihre Gedichte und ermutigte sie, sich von ihren Vorbildern zu lösen und ihre eigene Stimme zu finden.

Geschrieben hatte Paley, die damals noch Goodside hieß, schon immer, das heißt solange, wie sie zurückdenken konnte. Sie hatte auch schon das eine oder andere Gedicht veröffentlicht, aber irgendwie kam sie nicht voran. Sie wollte über anderes schreiben als bisher, über das Leben von Männern und Frauen, wie sie es bei ihren Freundinnen und Bekannten und Nachbarn erlebte und wie sie es selbst kannte. 1942 hatte sie den Filmemacher Jess Paley geheiratet, Anfang der Fünfziger fand sie sich als Hausfrau und Mutter zweier kleiner Kinder in einer Ehe, die schlecht lief, Paley war erschöpft und hatte, nach einer Abtreibung, einen physischen Zusammenbruch.

Sie musste sich erholen, machte eine Kur, war dadurch ein paar Monate von den Kindern getrennt, und da begann sie Erzählungen zu schreiben. In der Prosa konnte sie ihre Scheu, über so Alltägliches, scheinbar Unheldenhaftes wie Essenkochen und Kindererziehung, zu schreiben, überwinden. Trotz ihrer Selbstzweifel bot sie ihre erste Sammlung von Short Stories verschiedenen Verlagen an, und 1959 erschienen die »Kleinen Widrigkeiten des Lebens« und waren, nach lobenden Besprechungen durch Philip Roth und im »New Yorker«, ein Erfolg.

Paley hat aber nie aufgehört, Gedichte zu schreiben. Und wenn sie auch noch zwei weitere, erfolgreiche Bände mit Kurzgeschichten veröffentlichte, Kurse für kreatives Schreiben gab und als Dozentin lehrte, blieb sie doch auch der anderen, ihrer ersten, dichterischen Sprache treu. Sie schrieb immer weiter auch Gedichte, die sie aber nicht publizierte. Erst 1985, nach dem dritten Band mit Stories, kam der erste Lyrikband heraus, »Leaning Forward« – der sofort ein Erfolg war.

Es gibt ja Autoren und Autorinnen, mit denen man gern allein ist, die man nicht teilen möchte mit anderen, zu denen ein aus Eifersucht und Rivalität gemischtes Verhältnis besteht, bei denen man Deutungshoheit beansprucht und abweichende Ansichten anderer nicht erträgt. Grace Paley gehört nicht dazu. Sie ist so eine weltöffnende, unenigmatische, scheinbar mühelos leicht dahinplaudernde Dichterin, dass man sich gar nicht genug Leserinnen und Leser für sie wünschen kann. Unter den jüdischen Einwanderern New Yorks, so stelle ich mir vor, muss sie inzwischen den Status einer Ikone besitzen. Und ihr Parlando-Stil, hat er nicht Einfluss auf Rap und Hip-Hop? Es wäre uns allen zu wünschen. Dann würden Konsumwahn und Sexismus, Homophobie und Misogynität, Gewalt und Depression der emanzipativen Kraft der Liebe weichen und der Erkenntnis, dass wir alle alt werden und sterben, dass das aber kein Grund zum Verzweifeln ist, sondern gerade das unsere Lebenslust befeuern kann.

Mirko Bonné, der für Schöffling eine Auswahl aus dem lyrischen Werk der 2007 verstorbenen Dichterin getroffen und sie ins Deutsche übertragen hat, hat Paleys nicht einfach zu übersetzenden, raffiniert mündlichen Ton in all seinen Stillagen und Verkürzungen adäquat getroffen. Man hat Lust zu lesen, nicht nur einmal, sondern, die Seiten hier und dahin wendend, immer wieder. So macht man Entdeckungen, im Buch und in sich selbst, denn Grace Paley zu lesen bedeutet, geweckt zu werden für die Schönheiten, die uns umgeben, für die kleinen Freuden des Alltags, für Treue und Erinnerung, für ein erfülltes Leben.


Grace Paley: »Manchmal kommen und manchmal gehen«. Gedichte. Aus dem Englischen von Mirko Bonné. Schöffling, 116 Seiten, 20 Euro

fixpoetry, 27. Juli 2018

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