Mary Jo Bang »Elegie«

11.05.2018 Sprache/Meta

Mary Jo Bang »Elegie«Rezension

Wenn einer Mutter das Kind stirbt
Mary Jo Bang trauert in »Elegie« um ihren toten Sohn


Für eine Mutter gibt es wohl nichts Schlimmeres, als ihr Kind zu verlieren. Und nicht nur in frühen Jahren, wenn das Kind gerade erst geboren wurde, wenn es noch klein und wie unentdeckt ist, sein Ich noch nicht oder erst sehr wenig ausgewickelt hat, so dass nicht nur sein Fortgehen schmerzt, sondern auch, dass man noch gar nicht erfahren konnte, wer da eigentlich gegangen ist. Auch später, wenn das Kind schon lange erwachsen, selbst wenn es 37 oder 39 Jahre alt geworden ist, ist der Tod des Kindes ein Schock, den man wohl nie überwindet. Zu niemandem sonst hatte man eine intimere Beziehung, Schwangerschaft und Geburt, das Stillen verbinden auf elementare Weise durch das Wunder, den Schrecken, die Freude und den Schmerz, dass der eigene Körper einen anderen genährt und hervorgebracht hat. Die erst totale, allmählich schwächer werdende, dann in den Hintergrund tretende Verantwortung für ein menschliches Wesen, die Fürsorge und Liebe, die man seinem Kind gegenüber empfindet, bestehen ein Leben lang und eben auch über dieses Leben hinaus.

Als Joan Didions Tochter Quintana mit 39 Jahren starb, schrieb Didion ein Buch, »Blaue Stunden«, in dem sie versuchte, ihre Trauer, die alles in ihr ausfüllte, einzuhegen, indem sie sie mit dem einzigen Mittel, das ihr zur Verfügung stand, bearbeitete: der Sprache. Kurz vor dem Tod der einzigen Tochter (die sie als Baby adoptiert hatte) hatte sie bereits ihren Mann verloren, mit dem sie fast vierzig Jahre lang zusammen gewesen war, auch ihm hatte sie ein Buch gewidmet. Aber dieses zweite, das den Tod des Kindes mit Worten zu fassen versuchte, wäre fast ungeschrieben geblieben, so heftig war der Schmerz. Anders als nach dem Verlust ihres Mannes kam er nicht in Wellen, die Erholungspausen ließen, und er wurde nicht schwächer. »Wenn ein Kind stirbt, hat das keine Logik«, sagte Didion in einem Interview mit Jana Simon in der »Zeit«. »Der Schmerz ist ein anderer, er geht nicht weg!« Vor ihm kapituliert die Sprache. Es bleibt nur das Verstummen oder der Schrei.

Was sich in Worte fassen lässt, ist niemals der Schmerz selbst. Es sind die Erinnerungen, die einen überkommen, an gemeinsame Stunden mit dem Kind: an Ferien, Mahlzeiten, Feste, an den ganz normalen Alltag mit Schularbeiten und Musikstunden, an Spaziergänge, durchgemachte Krankheiten, Einkäufe, Kino- und Museumsbesuche, an das Wesen des Kindes. Wie es den Kopf hielt, lächelte, spielte, sang, trotzig war, altklug, traurig, wütend, glücklich.

Was beim Kinderaufziehen ohnehin schmerzt, die immerfort dahineilende Zeit, die augenblicklich jeden Augenblick zu einem gewesenen macht, die Vergänglichkeit, die allem, was man erlebt, innewohnt und über die man sich tröstet, indem man sich an der Entwicklung des Kindes freut, seinem Wachstum, seinen neuen Interessen und Fähigkeiten, dieser Schmerz steigert sich beim Tod eines Kindes ins Unerträgliche. Man kann ihm nicht beikommen. Die Erinnerungen lauern überall, in den gemeinsam bewohnten Räumen, den gemeinsam benutzten Gegenständen, den Büchern, die man vorlas, der Musik, die man zusammen hörte, in den Straßen, den Parks. Die Einsamkeit ist brutal und total.

Auch die 1946 in Missouri geborene Dichterin Mary Jo Bang hat ihr Kind verloren. Mit 37 Jahren starb ihr Sohn, überraschend, unfasslich. Man erfährt nicht, ob es ein Unfall war oder Selbstmord, für beides gibt es Anzeichen in der »Elegie / Elegy« genannten Sammlung von Gedichten; nur dass der Tod des Kindes völlig unerwartet über die Mutter hereinbrach, wird klar:

(…) Someone has seen you
And says you were fine
Joust hours before you weren’t.

(A Sonata for Four Hands)


Der Gedanke kann einen töten. Nicht unbedingt sofort und physisch, aber seelisch. Wo war ich, als mein Kind starb, weshalb konnte ich es nicht retten? Versagens- und Schuldgefühle verbinden sich mit dem des Verlassenseins, des Unwiderbringlich-Verloren, Nie-Wieder. Was lässt sich jetzt noch tun?

Mary Jo Bangs Antwort lautet: schreiben. Über all das: die Erinnerungen, die Angst, die Trauer, die Träume, das Auseinanderfallen der Wahrnehmung, das Auseinanderdriften von innen und außen, die Überlappungen der Zeit, Vergangenheit und Gegenwart, die ausgelöschte gemeinsame Zukunft. Über das Kind, das man so sehr geliebt hat und weiter liebt, das einzige, einzigartige, eigene Kind.
 

You, singularly you. And gone
Invisible.

(A Sonata for Four Hands)


Was für Töne Mary Jo Bang ihrer Klage abringt, es erstaunt und ergreift. Die Erinnerung ans Früher verbindet sich mit den durch den Tod notwendig gewordenen Vorgängen (die Sohneswohnung muss geräumt, der Leichnam bestattet werden) und den Gedanken und Gefühlen, die sie währenddessen ausfüllen (darunter das der Fühllosigkeit), dem plötzlichen Erscheinen des Kindergesichts, des Sechsjährigen, der mühsam die Treppe hochsteigt:
 

Rumination is and won’t stop
With the stoppered bottle, the pills
On the floor, the broken plate
On the floor, the sleeping face

In the bassinette of your birth month,
The dog bite, the difficulty,
The stairwell of a three-flat
Of your sixth year, the flood

Of farthering off this all takes you
As thought and object become
What you are. My stoppered mind.
A voice, carried by machine,

Across a lifeless body. Across
A lacerating lapse in time.

(No more)


Bangs Gedichte sind beides, autobiographische Texte, die an einen einzigartigen Menschen, ihr Kind, erinnern, und Klagegesänge, die, was bei einem solchen Verlust mit den Hinterbliebenen geschieht, ganz allgemein und überindividuell ausdrücken, den Leser zum einen anrühren, zum anderen verstören. Sie erzählt uns nicht, wer ihr Kind war – aber was es ihr war, dass erfahren wir, über die Beschreibung ihrer Trauer, die so viele Abgründe kennt, und in jeden davon kann man stürzen. Bang ist eine Meisterin der sprachlichen Nuance, ihre Perspektivwechsel kühn, die stilistischen Schichtungen fein wie lange vom Meer geschaukelte Sedimente, und ihre formalen Neuerungen und Variationen des Trauergesangs, mit denen sie die Facetten des vom Tod bedrohten Humanum auszudrücken vermag, sind bewunderungswürdig.

Der Wallstein-Verlag hat sich für eine zweisprachige Ausgabe entschieden. Zum Glück. Denn übersetzt haben Matthias Göritz und Uda Strätling in ein leider langatmiges, dem Original fast nirgendwo gerecht werdendes Deutsch. Aber die Übertragungen helfen dem deutschsprachigen Leser doch, die Originale besser zu verstehen und so dem staunenswerten sprachlichen Können Bangs, ihrer gedanklichen Tiefe, ihrer formalen Meisterschaft Herz, Körper und Seele zu öffnen. Bei jeder Lektüre entdeckt man mehr. Diese Gedichte über das Mysterium von Leben und Tod schöpft man nicht aus.


Mary Jo Bang: »Elegie«. Gedichte. Übersetzt von Matthias Göritz und Uda Strätling. Wallstein, 172 Seiten, 20 Euro

fixpoetry, 11. Mai 2018

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