»Es war lange bekannt, dass sie befreundet waren, Gershom Scholem, der Kabbala-Forscher, 1897 in Berlin geboren, 1923 nach Palästina ausgewandert und 1982 dort gestorben, und Hannah Arendt, die 1906 in Hannover geborene, in Königsberg aufgewachsene, 1933 von Berlin nach Paris geflohene Theoretikerin des Politischen, der es 1940 gelang, nach New York zu emigrieren, wo sie 1975 starb. Aber worin bestand ihre Verbindung, die über 27 Jahre hindurch vor allem durch Briefe genährt wurde, nun eigentlich?
Aus der nun von Marie Luise Knott edierten Korrespondenz wird deutlich, wie engagiert beide nach Kriegsende für die Rettung des jüdischen Kulturerbes in Europa kämpften. Im Auftrag der Organisation Jewish Cultural Reconstruction reisten sie, wenn auch unabhängig voneinander, nach Deutschland. Im Detail verschiedener Meinung waren sie sich in der Sache einig und tauschten sich über ihre Eindrücke, ihre Arbeit aus. Und natürlich verband sie der gemeinsame Freund Walter Benjamin. Arendts Schilderung der Umstände seines Todes auf der Flucht ins Exil stehen am Beginn des Briefwechsels, und mit der Ankündigung eines Benjamin-Vortrags von Scholem endet er. Immer wieder sind beide, in der Trauer um den Freund vereint, bemüht, dessen Werk für die Nachwelt zu bewahren und es einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Neben dem Gemeinsamen gab es jedoch auch viele Konflikte: Ein Streitpunkt war der Zionismus und die mit ihm verknüpfte Frage nach der politischen Zukunft Palästinas. Scholem, der seit 1923 in Palästina lebte, forderte angesichts der Bedrohung ein unbedingtes Ja zum jüdischen Staat. Arendts zurückhaltend-kritische Position erschien ihm da fast wie Verrat. Großen Dissens löste dann Arendts Bericht über den Jerusalemer Eichmann-Prozesses aus, in dem die berühmt gewordene, umstrittene Formel von der ›Banalität des Bösen‹ fiel, die diesen ›Massenmörder ohne Motiv“ charakterisiere, der mordete, ›weil es zur Karriere gehörte‹. Mehr noch als der Disput über die Schuld des Täters, trennte Arendt und Scholem jedoch die Frage nach der Verantwortung der jüdischen Opfer an ihrer Vernichtung – über der von Arendt bescheinigten Mitschuld der Judenräte kam es schließlich zum Bruch.
Von Minoritäten wird ja oft erwartet, sie sollten mit einer Stimme sprechen, als ob Meinungspluralität nur etwas für die Mehrheit sei. Am Briefwechsel zwischen Arendt und Scholem, die beide aus dem assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertum kamen, kann man nun sehen, wie fruchtbar und notwendig der Streit ist, um die eigene Position zu bestimmen und zu hinterfragen. Den Schock des Scheiterns von Emanzipation und Assimilation vor Augen arbeiteten Arendt wie Scholem an einer Neugründung jüdischen Selbstverständnisses aus ›unbearbeiteter Erfahrung‹. Mystik (Scholem) und Paria-Erfahrung (Arendt) bildeten die beiden Pole, über die sie sich austauschten, wobei jeder vom anderen profitierte und dennoch seinen Weg ging. Die vorzüglich edierte und kommentierte Ausgabe macht diesen Doppelweg anhand der Briefe und vieler weiterer Quellen und Beilagen nun ganz unmittelbar deutlich. Sie ist ein beeindruckendes Dokument jüdisch-jüdischen Gesprächs.«
Hannah Arendt / Gershom Scholem: »Der Briefwechsel: 1939–1964«. Hg. v. Marie Luise Knott. Unter Mitarbeit von David Heredia. Jüdischer Verlag, 695 Seiten, 39,90 Euro
kultiversum, 20. Dezember 2010