Jerusalem – Zeitenwenden einer Stadt
»Jerusalem – die heilige Stadt von Juden, Christen und Muslimen, umworben, umkämpft, und zugleich der Ort, der wie kein anderer auf die gemeinsamen Wurzeln der drei abrahamischen Religionen deutet. Seit dreitausend Jahren aber macht die Stadt, die, wenig attraktiv, inmitten von Wüsten liegt und nur über eine unzureichende Wasserversorgung verfügt, vor allem als Zankapfel erstaunliche Karriere.
Judäas bzw. Palästinas Lage auf der einzigen Landverbindung zwischen Europa, Afrika und Asien machte die Region von jeher zum begehrten Spielball der Regional- und Weltreiche, und die Religion verschärfte die territorialen Konflikte um sakrale. Und wie das Land, das das „Gelobte“ und „Heilige“ genannt wird, ist es auch bei der Stadt vor allem die geistige Dimension, das ideelle Jerusalem, das die Menschen anzieht und immer wieder Konflikte und Kriege auslöst – für Juden- wie Christentum ist Jerusalem der Nabel der Welt.
Auf christlichen Landkarten aus dem Mittelalter ist das deutlich zu sehen, stets bildet Jerusalem dort als die Stadt der Passion, Grablegung und Auferstehung Christi das Zentrum. Für orthodoxe Juden ist Jerusalem der ›Schöpfungsstein‹, aus dem Gott alles formte, und je länger die Diaspora dauerte, desto mehr der altjüdischen Geschichten wurden in den Kreis ihrer Mauern verlegt: Nicht nur soll Gott hier den Menschen erschaffen haben, auch Abrahams Opferung seines Sohnes Isaak und der Brudermord Kains an Abel sollen hier geschehen sein.
Und es ist dieses spirituelle Jerusalem, nicht das physische, auf das sich auch der Islam gründet – der Koran erzählt von der Himmelfahrt Mohammeds, die hier, nachdem der Prophet von Mekka nach Jerusalem entrückt worden war, ihren Anfang nahm: Vom Felsen auf dem Tempelberg soll er in den Himmel aufgestiegen sein. So eignete sich der Islam bereits in seinem Beginn die mythischen Traditionen der Stadt und die heilsgeschichtliche Zentralität, die sie für die anderen beiden abrahamischen Religionen besaß, an.
›Jerusalem hat sich also vor allem als Idee, als Symbol für Gottesnähe im Gebet, als spiritueller Ort, wo die Grenzen zwischen Welt und Transzendenz durchlässig sind, in die islamische Religion eingetragen‹, hält Angelika Neuwirth, Arabistin an der FU Berlin und eine der Beiträgerinnen des bei der DVA erschienenen facettenreichen Bandes über die heilige Stadt, fest. Sichtbares Zeichen hierfür sei der Felsendom, dessen Umstände und Gründe der Erbauung zwar noch immer ungeklärt sind, der aber bis heute den Anspruch der Muslime auf den geheiligten Ort bekräftigt – ebendort, wo einstmals der den Juden heilige Tempel Salomons gestanden hat.
Dass es bei Jerusalem so sehr wie vielleicht bei keiner anderen Stadt, um die Erzählungen von Gründung, Eroberung, Besiedlung geht, um eine Folge der Ansprüche, die sich daraus ableiten lassen, zeigen sehr aufschlussreich die Kapitel, die sich der Archäologie – einer von den Christen eingeführten Wissenschaft – widmen. Wurde sie zunächst aus dem Wunsch heraus betrieben, die Geschichten der Bibel als reale zu bestätigen und den zunehmenden Unglauben im aufgeklärten Europa zu bekämpfen – als belege ein Kreuz die Kreuzigung, ein leeres Grab die Auferstehung, als würden Tafeln, Urkunden, Münzen mit den Aufschriften und Bildnissen Davids und Salomons die biblische Heilsgeschichte oder gar die Existenz Gottes beweisen –, diente sie später auf arabischer oder jüdischer Seite oftmals vor allem nationalistischen Interessen.
Gewissheit sollte her, wo nur der Glaube Bestand haben kann, und so wurden Grabungen und Funde häufig vom Wunschdenken gelenkt und bewertet. Schwerwiegend sind, zeigt der Archäologe und Theologe Dieter Vieweger, diese aus schlechter archäologischer Forschung gewonnenen Daten, etwa wenn sie beweisen sollen, dass etwas schon von Anfang an im Besitz einer religiösen Gemeinschaft gewesen sei und daher auch heute dieser zu gehören habe. Bei den Grabungen, bei denen nur ausnahmsweise Archäologen aller drei Religionen, Israelis und Palästinenser zusammenarbeiten, werden für die Untermauerung der eigenen Thesen unbrauchbare Zeugnisse zuweilen einfach ›entsorgt‹; und um überhaupt graben zu können, werden Bewohner oftmals zwangsenteignet oder gar mit brutalen Methoden vertrieben.
Jerusalem, das zeigt der Band, der eine Fülle von Themen in leider ebenso vielfältiger stilistischer Breite vereint, wobei der aus Magazin- bzw. Zeitungslektüre gewohnte Ton, der kapitelweise schnoddrige Färbung annimmt, leider überwiegt und manche Dopplung langweilt, Jerusalem ist wie ein Konzentrat aller Hoffnungen, Wünsche, Träume, Erlösungssehnsüchte, Heils- und Gerichtsphantasien. Diesen Erwartungen kann eine reale Stadt nicht standhalten.
Das war schon zu Zeiten des zunehmenden Pilgerstroms zu Beginn des 19. Jahrhunderts so, schwere Enttäuschungen blieben da nichts aus: So notierte Herman Melville, der die Reise lange ersehnt hatte, frustriert: ›In der Leere der leblosen Altertümer Jerusalems wirken die eingewanderten Juden wie Fliegen, die ihre Bleibe in einem Schädel gefunden haben‹, und über die amerikanischen Missionare, die Juden und Muslime zum Christentum bekehren wollten, bemerkte er: ›Könnten ebenso gut versuchen, aus Ziegelsteinen Hochzeitstorte zu machen‹.
Mit den enttäuschten Erwartungen ist es bis heute so geblieben, da die christlichen Konfessionen untereinander im Streit sind und die Juden und Araber mehr schlecht als recht zusammenleben und miteinander auszukommen versuchen. Für eine friedliche, das heißt alle Seiten, wenn nicht zufriedenstellende, so doch wenigstens akzeptable Lösung spricht in absehbarer Zeit wenig. Dabei wäre der Plan von Rabbi Menachem Froman, nicht das Land, sondern die Macht zu teilen, für Jerusalem gar nicht abwegig: Für Israel sah er die Bildung zweier Staaten auf demselben Territorium vor, gewissermaßen übereinandergelegt, mit zwei Regierungen, zwei Parlamenten – und ließe sich für Jerusalem nicht eine solche doppelte oder paritätisch besetzte Administration und Regierung denken.
Aber dazu müssten beide Seiten kompromissbereit sein. Weil aber, wie Dan Diner, Professor für moderne und jüdische Geschichte in Jerusalem und Leipzig, feststellt, das Heilige nicht teilbar ist, vielmehr absolut gilt, brächte jede Art von Teilungskompromiss, betreffe er nun Macht oder Territorium, die Stadt um die Attribute ihrer Heiligkeit. Was dringend nottut, so Diner, ist daher eine Trennung von sakralem und profanem, von metaphorischem und politischem Raum – damit der eine den anderen nicht immer als Geisel nimmt und damit einen dauerhaften Frieden verhindert.«
Annette Großbongardt / Dietmar Pieper (Hg.): „Jerusalem. Die Geschichte einer heiligen Stadt“. DVA München, 288 Seiten, 23 Abb., 29,90 Euro
kultiversum, 24. Januar 2010