»1950 zog Pasolini mit seiner Mutter aus dem kleinen Städtchen Casarsa im Friaul nach Rom. Es war eine Flucht. Seine Homosexualität war bekannt geworden, er wurde aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen und verlor seine Stelle als Volksschullehrer. Auf einen Schlag war er politisch heimatlos und in äußerst prekärer finanzieller Lage.
Aber was für Pasolini ein Schicksalsschlag war, war für die italienische Literatur ein Glück. Auf langen Streifzügen erkundete Pasolini seine neue Umgebung, die vom Krieg gezeichnete Metropole am Tiber, wobei ihn weniger die Sehenswürdigkeiten interessierten als das Leben und Treiben der einfachen Leute, des Volkes, an dem ihn das Elementare und, trotz des Elends, Vitale und Schöne faszinierten. Die herumlungernden Tagediebe, die in Pappkartons gewickelten Obdachlosen, die spielenden Kinder, die schreienden, feilschenden Marktfrauen, die auf Freier wartenden Prostituierten, alle interessieren ihn.
›Zeuge und Teilhaber dieser / Rohheit, dieses Elends kehre ich zurück (...) sklavisch / in meinem Wissensdurst, im Drang zu verstehen‹, schreibt er in einem Gedicht. Er will wissen, was dieses Leben ausmacht, will die geheimen Verhaltenskodizes der Stricher, der Gauner, die Rom wie eine Bühne benutzen, ergründen, wie ein Ethnologe nähert er sich den tausend Facetten der Stadt und ihren Bewohnern und hält seine Beobachtungen, Gedanken, Wünsche und Hoffnungen, seine Wut und seine Enttäuschung in Gedichten, Erzählungen und Tagebucheinträgen fest.
Eine Auswahl aus diesen in den fünfziger und sechziger Jahren entstandenen Texten über die Stadt, in der ›Schönheit und Hässlichkeit natürlich verbunden sind‹, haben nun Dorothea Dieckmann und Annette Kopetzki zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt und in einem bibliophilen Band in dem noch ganz jungen Corso Verlag herausgegeben. Es ist eine gelungene Mischung von Miszellen, zwischen die klassisch-schlichte, poetisch-strenge Schwarzweißaufnahmen von Herbert List gestreut sind. Zusammen zeichnen sie ein anderes, wahreres Bild von Rom als Reiseführer und Postkarten, auch wenn, was sie zeigen, längst verschwunden ist.«
Pier Paolo Pasolini: »Rom, andere Stadt«. Geschichten und Gedichte ausgewählt und übersetzt von Annette Kopetzki und Theresia Prammer. Mit Fotografien von Herbert List und einem Nachwort von Dorothea Dieckmann. Corso Verlag, 112 Seiten, 24,90 Euro
kultiversum, 5. November 2010