Anpassungsmimikry
Österreich ist schon seit Langem ein vortrefflicher Nährboden für die Literatur: die Abgründe in der herausgeputzten Idylle, die Mordspalten im Herzlgesicht, die Doppelzüngigkeiten der Sprache sind der Dünger, mit dem das erzählerische Kraut besonders gut gedeiht. Das beweist auch die im Alter von vier Jahren mit ihrer Familie von Zagreb nach Klagenfurt und Wien migrierte Anna Baar, die in ihrem bei Wallstein erschienenen Erzählungsband »Divân mit Schonbezug« (153 Seiten, 20 Euro) ihre Wahlheimat schonungslos unter die Lupe nimmt. Bitterbös und genau, voller Wut über die ihr in Kindertagen angetanen Verletzungen, den erzwungenen Opportunismus in Schule und Nachbarschaft. Anna Baar beschreibt das Leben zwischen den nationalen Stühlen und beiden Sprachen: Auf keiner der Seiten darf die ganze Wahrheit gesagt, auf dem einen nicht die andere, auf dem anderen nicht die eine, erste Sprache gesprochen werden. Baar hat Worte gefunden für die wechselseitig eingeimpfte Scham, das fortwährende Gefühl der Nichtzugehörigkeit, Heimatlosigkeit, hier wie da; sie bricht die Tabus und erzählt von ihrer Traurigkeit, Trauer, ihrer Anpassungsmimikry, den Wunden und Narben, die das Verbot, zwei (und mehr) Heimaten zu haben, hinterlässt, erzählt von ihren eigenen Versäumnissen, Fluchten und ihrer großen Sehnsucht nach einer wirklich humanen Welt, in der sich niemand zu schämen braucht für das, was er ist und woher sie kommt. Erst in dieser Welt, davon ist sie überzeugt, wird es wirklich Frieden geben. Ihr Buch öffnet uns allen den Weg dorthin, indem wir, während wir lesen, uns selbst prüfen, befragen, öffnen, verändern. Im Sommer hat Anna Baar den Großen Österreichischen Staatspreis erhalten.
Anna Baar: »Divân mit Schonbezug«. Erzählungen. Wallstein 2022, 153 Seiten, 20 Euro
FAS Nr. 42, 23. Oktober 2022, Feuilleton Seite 40