Zeitschleife
Die 1915 in Kalifornien geborene Autorin Jean Stafford, in den fünfziger und sechziger Jahren auch in Deutschland viel gelesen und gerühmt, ist danach in Vergessenheit geraten. Der Schweizer Dörlemann-Verlag hat jetzt ihren Roman »Die Berglöwin«, der 1947 erschien und von der Kritik begeistert aufgenommen wurde, in neuer Übersetzung von Adelheid und Jürgen Dormagen herausgebracht. Eine unheimliche Zeitschleife: In der Geschichte der beiden Geschwister und Außenseiter Molly und Ralph, die in einem typischen Vorort eines amerikanischen Städtchens in den dreißiger Jahren aufwachsen, begegnet einem das von Kindheit an aus den farbsatten Nachkriegskinofilmen Bekannte, das man aber erst jetzt in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit begreift: wie der amerikanische Way of Life die Unterschicht packt, ihre Wurzeln kappt und sie in die Welt des Massenkonsums katapultiert. Nichts ist hier mehr »echt«, weder Wünsche noch Interessen noch Gefühle. Die Kinder wachsen in einer Kulisse heran, in der die Erwachsenen ständig »Werte« vor sich her tragen, die ihre innere Leere, ihre Erfolgs- und Aufstiegsgier kaschieren sollen und reine Heuchelei sind: Patriotismus, religiöse und moralische Überzeugungen, Bildung, Manieren. Den Kindern wird unaufhörlich mit Benimmregeln und unter unerbittlicher Missachtung ihrer Bedürfnisse ausgetrieben, was ihr Wesen ausmacht: das Stück Wildnis, das sie in ihren Körpern tragen. Das kann nicht gutgehen, und geht auch nicht gut.
Jean Stafford: »Die Berglöwin«. Aus dem Englischen von Adelheid und Jürgen Dormagen. Dörlemann, 352 Seiten, 25 Euro
FAS Nr. 6, 9. Februar 2020, Feuilleton Seite 38