»Patagonien, diese Landschaft im Süden Südamerikas, so südlich, dass sie schon wieder nordisch wird, kalt, abweisend, leer, so dünn besiedelt, dass man sich, will man diese Landschaft durchqueren, verproviantieren und mit Ersatzteilen und Benzin ausrüsten muss – denn jede Reise gerät hier schnell zu einer Expedition.
Stimmen diese Zuschreibungen? Oder entsteigen sie dem Zauber dieses Wortes: Pa-ta-go-nien? Dieses Worts, das ein Gebiet bezeichnet, mehr als doppelt so groß wie Deutschland, und das wie eine riesige leere Leinwand wirkt, auf die wir unsere Träume, auch Albträume projizieren. Eine Kindheitslandschaft, in der die Abenteuer suchenden Figuren Jules Vernes herumirren, eine Landschaft der Adoleszenz, von Bruce Chatwin bereist und beschrieben. Das Ende der Welt und der Anfang der Geschichten.
Ja, sie stimmen, die Zuschreibungen, sagt María Sonia Cristoff, noch immer ist Patagonien rau und leer und wild. Und sie muss es wissen, immerhin wurde sie an diesem Rand der Welt geboren und lebte zwanzig Jahre dort, ehe sie nach Buenos Aires ging, wo jeder in Argentinien hingeht, der etwas werden will. Dann aber packten sie das Heimweh und die Neugier, ob denn wirklich alles so ist, wie ihre Erinnerungen und die Bücher ihr erzählen, und sie fuhr wieder hinunter, um nach der spezifisch patagonischen Abgeschiedenheit und Einsamkeit zu suchen. Sie besuchte Geisterstädte, zurückgebliebene, vor sich hin rottende Zeugen des Ölbooms am Rande aufgegebener Bahnstrecken und von Gras überwucherter Flugplätze, besuchte ihre Bewohner, die wie Gespenster in ihnen wohnen, gescheiterte Existenzen, stille Verrückte, die unter dem ständigen Wind und der überwältigenden Präsenz des Himmels in der Ebene leben, ›wo alles die gleiche Farbe hat‹, vergessen vom Rest des Landes, aber stolz und ungezähmt.
So sind zehn Reportagen entstanden, in denen Cristoff vor allem von den Menschen Patagoniens erzählt. Sie lässt sich Zeit. Sie hört ihnen zu, hört auch auf die Stille zwischen den Wörtern, Sätzen, betrachtet die Familienfotos, kocht mit ihnen, isst mit ihnen. Sitzt nur da und wartet. So kommen die Geschichten zu ihr. Geschichten von Händlern, Dieben, Mördern, Geschichten aus alten Historien und neuen Soziologiebänden, aus den Mündern und Augen und Gesten der Menschen, die ihr begegnen. Zehn Texte ganz eigener Art sind so entstanden, literarische nonfiction, die Schicksale sichtbar macht und ihnen durch die ruhige, unprätentiöse Erzählweise etwas Exemplarisches verleiht.«
María Sonia Cristoff: »Patagonische Gespenster«. Reportagen vom Ende der Welt. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, 288 Seiten, 25 Euro
kultiversum, 28. Oktober 2010