Heinrich Detering / Eva Karadi (Hg.) »Ungarn und Europa«

20.01.2015 Sprache/Meta

Heinrich Detering / Eva Karadi (Hg.) »Ungarn und Europa«Rezension


Keine Zukunft
Ungarns Fixierung auf die Vergangenheit verstellt den Horizont fürs Kommende

Die Ungarn sind eine unglückliche Nation. Nie zufrieden mit dem, was sie haben. Mal ist ihr Land zu groß, dann wieder zu klein, mal haben sie zu viel Freiheit, dann wieder zu wenig. Oder die Freiheit ist einfach am falschen Ort. In der Wirtschaft, wo sie nicht sein soll, denn da macht sie den meisten Angst, führt zu Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen, Unsicherheit. In der Politik, wo sie auch nicht sein soll, denn da führt sie zu viel zu vielen endlosen Debatten, faulen Kompromissen, falschen Entscheidungen. In der Kultur, wo sie am schlimmsten ist, denn da nimmt sie sich Frechheiten heraus, stellt infrage, übt Kritik, spottet, verrät, verbündet sich mit dem Ausland, das den Ungarn diese Freiheit, mit der sie nichts anfangen können, aufgebürdet hat, schwächt Einheit und Zusammenhalt und schadet dem Ansehen der Nation in der Welt.

Europa schaut mit Befremden auf dieses Land, das sich beleidigt abkapselt, versteht nicht, weshalb es sich nicht einfach seinen Nachbarn gegenüber öffnet, in alle Himmelsrichtungen schaut und atmet. Die Ungarn waren doch die Ersten, die sich gegen die sowjetische Besatzung und das kommunistische Regime zur Wehr setzten. Weshalb genießen sie jetzt nicht, dass sie alles sagen, überall hin reisen, neugierig und offen sein dürfen? Weshalb hat dieses Land so viele Komplexe? Wo ist seine Jugend? Warum schaut es immer nur zurück, auf das Verlorene, und nicht in eine Zukunft, die es gestalten könnte?

Das sind so die Fragen, die der von Heinrich Detering und Eva Karadi herausgegebene Band »Ungarn und Europa« aufwirft. Er versammelt Beiträge, die im Zusammenhang mit verschiedenen Treffen von Intellektuellen – Schriftstellern und Kritikern, Übersetzern, Zeitschriftenherausgebern und Verlegern – aus Ungarn, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Rumänien, Serbien und anderen europäischen Ländern entstanden sind und der Erkundung der Frage dienten, was da los sei, in diesem Orbán-Staat, in dem postfaschistische Parteien und Gruppierungen breite Unterstützung finden, demokratische Rechte abgeschafft wurden, eine Zensur und eine totale Medienkontrolle droht.

Die Antworten haben ganz unterschiedlichen Charakter, mal autobiographisch erzählend, mal essayistisch, mal analytisch, mal satirisch-kämpferisch. Es sind Erklärungsversuche aus der Perspektive kosmopolitischer Intellektueller, deren Heimat weniger ein Land als eine Sprache, ein Kontinent, eine Geisteshaltung ist. Von einem Ort des Außenseitertums also, der auch einer der Privilegien ist. Denn er erlaubt einen Aus- und Überblick, ein Sich-Erheben über die alltäglichen Sorgen und Probleme, die mit dem Lebensunterhalt zu tun haben, der Gesundheit, dem Essen und dem Dach über dem Kopf. Dem also, worum viele Ungarn tagtäglich kämpfen, weshalb sie anfällig sind für einfache Lösungsvorschläge, für die Suche nach Sündenböcken, für nationalistische Parolen und antieuropäische Ressentiments.

Aber auch der Sammelband ist nicht frei davon, allerdings von der anderen Seite. Auch er versammelt Klischees, stereotype Wertungen, Präferenzen und Zurückweisungen, ohne wirklich das Gespräch zu suchen – das Gespräch mit denen, die er vorführt. Es wäre schön gewesen, wenn auch ein paar Menschen befragt oder eingeladen worden wären, die nicht zur intellektuellen In-Group gehören, die nicht die Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen in Zeitungen und Zeitschriften, die nicht ins Ausland eingeladen werden, um dort zu erzählen, was sie denken, fühlen, wovor sie Angst haben und wovon sie träumen. Gegenstimmen, Unter- und Zwischentöne zu der seit Jahren angestimmten Klage und routinierten Selbstverständigung der intellektuellen Klasse, deren Mitglieder sich untereinander bestätigen und die ausschließt, von denen sie spricht, über die sie urteilt.

Dadurch werden die bestehenden Fronten nicht durchlässiger, gar aufgelöst, sondern weiter verhärtet. Das ist aber eine der größten Gefahren für eine Demokratie: dass es keinen Raum gibt, in dem die konträren Meinungen aufeinander treffen, in dem einander zugehört, in dem gemeinsam debattiert wird und sich auch die Marginalisierten Gehör verschaffen können. Mag sein, dass die ungarischen Intellektuellen der Auffassung sind, dass sie dazu schon bereit wären, die andere Seite dies aber ablehne. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Eine aufklärerische Haltung sähe anders aus. Sie würde versuchen, zu beschreiben, zu überzeugen, und zwar da, wo sie nicht schon mit Einverständnis rechnen kann. Sie würde versuchen, die Vorurteile aufzubrechen, durch Begegnung.

Gemeinsam Ideen zu entwickeln, die nicht immer nur zurück in die Vergangenheit, sondern die in die Zukunft weisen, könnte helfen, die desolate geistige, politische, wirtschaftliche Lage zu verändern. Dazu brauchte es emanzipatorische Ideen, Bilder für Kommendes, das nicht Regression, also bloß der Versuch der Herstellung der einstmals großen, heroischen Vergangenheit ist, oder, auf Seiten der Intellektuellen, die Klage darüber. Futurisches findet sich in dem Band leider nicht.


Heinrich Detering und Eva Karadi (Hg.): »Ungarn und Europa. Positionen und Digressionen«. Valerio. Die Heftreihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Bd. 16/2014, Wallstein 2014, 190 Seiten, 10 Euro

fixpoetry, 20. Januar 2015

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