Wassili Golowanow »Das Buch vom Kaspischen Meer«

08.03.2020

Wassili Golowanow »Das Buch vom Kaspischen Meer«Buchbesprechung


Für die Tasche

Von einer Reise ins Wolgadelta im Jahr 1999 bringt der russische Journalist und Reiseschriftsteller Wassili Golowanow ein Bild mit, das ihn nicht mehr loslässt: Das riesige, dschungelartige Geflecht der Kanäle mit ihren Lotusblütenteppichen, dem Dickicht aus Schilfwänden und uralten Weidenbäumen öffnet sich plötzlich zur gelben Weite des winddurchpflügten »Steppenmeeres«, des Kaspisees. Golowanow hat es bei diesem Anblick sofort gepackt, nur widerstrebend kehrt er nach Moskau zurück und beginnt dort ein fünfzehn Jahre währendes Studium der Geschichte und Geografie Zentralasiens. Ihm schwebt nicht weniger als eine »vollständige Geografie des Kaspischen Meeres« und seiner von Buchara bis Indien, von der Mongolei bis nach Mesopotamien reichenden Handels- und Kulturbeziehungen vor, ein größenwahnsinniges Unterfangen.

Selbst wenn sich Golowanow in seinem »Buch vom Kaspischen Meer« letztlich damit begnügt, »auf die Totalität nur anzuspielen« – seine »Einladung zu einer Reise«, wie es im Untertitel heißt, ist immer noch mehr als tausend Seiten stark, disparat und in vielerlei Hinsicht monströs. Neben der uralten Geschichte der Region – Golowanow beginnt bei den 25.000 Jahre alten Felsbildern von Qobustan in Aserbaidschan, erzählt von den Persern, Alexander dem Großen, von Mongolen und Turkvölkern – beschäftigt den Autor vor allem die Gegenwart. Im heimatlichen Moskau begegnen ihm nämlich überall die arbeitssuchenden Migranten aus den ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken, Hunderttausende haben nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion die Kaspiregion verlassen, bringen ihre Kultur und Religion und auch ihre Konflikte nach Russland und verändern damit mehr und mehr das Land, von dem sie über Jahrhunderte kolonisiert wurden. Golowanow will sie verstehen und weiß, dass es dazu nicht reicht, die Zugewanderten bloß zu befragen. Er muss den Raum, aus dem sie kommen, durchqueren.

Seine Reise ist daher nur selten bloß touristischer Ausflug, der ihn zu Kulturdenkmälern und in die ihn beeindruckende Leere und Weite der Steppe oder zu den Qaratau-Berge führt. Sie ist vielmehr die ganz klassische Auseinandersetzung eines Okzidentalen mit dem Orient. Verstellt von seinen eigenen Prägungen und Projektionen ist Golowanow aber ehrlich genug, einzugestehen, dass er zu einer die eigenen Wurzeln aufgebenden Öffnung oder wenigstens Toleranz dem Anderen gegenüber letztlich nicht fähig ist. In Dagestan fühlt er sich so fremd, dass er die Reise abbricht und Hals zurück nach Moskau flieht. Über der Verstörung, dass das Erfahren des Fremden die Fremde nicht kleiner macht, sondern vergrößert, gewinnt er jedoch zweierlei: eine tiefe Einsicht in das Eigene, Ungewusste, Verdrängte. Und ein Buch, das zwar irritierend und monströs ist, stellenweise auch naiv, banal und selbstverliebt, aber vor allem berauschend, reich, poetisch, wunderbar.


Wassili Golowanow: »Das Buch vom Kaspischen Meer. Einladung zu einer Reise«. Aus dem Russischen von Valerie Engler und Eveline Passet. Matthes & Seitz 2019, 1072 Seiten, 48 Euro

FAS Nr. 10, 8. März 2020, Reise Seite 56

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