Luzius Keller (Hg.) »Marcel Proust Enzyklopädie«

15.02.2010

Luzius Keller (Hg.) »Marcel Proust Enzyklopädie«Rezension


»Das erste Stichwort ist ›Adel‹, das letzte ein kurzes Prosastück des 24-jährigen Proust mit dem Titel ›Zum Diner geladene Gäste‹, und dazwischen liegen Hunderte andere zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung Marcel Prousts und seines Werks, wie der Titel der 2004 bei Honoré Champion erschienenen und jetzt von Luzius Keller auch auf Deutsch vorgelegten ›Marcel Proust Enzyklopädie‹ verspricht.

Dieses tausendseitige Lexikon ist jedoch nicht nur die Übersetzung des ›Dictionnaire Marcel Proust‹, das von Annick Bouillaguet und Brian G. Rogers herausgegeben wurde, sondern seine kritische Durchsicht; nicht nur wurden alle Seitenangaben, die sich auf das Werk Prousts beziehen, für den deutschen Leser der Frankfurter Werkausgabe, die ebenfalls von Luzius Keller betreut wurde und seit 2007 vollständig vorliegt, umgestellt, so dass man jederzeit an Ort und Stelle nach- und weiterlesen kann, die deutsche Ausgabe wurde auch um neue Forschungsergebnisse und eine Reihe von Einträgen ergänzt.

Und darin finden sich nun Artikel zu Orten, an denen Proust gelebt, und Orten, die er für seinen Roman erschaffen hat, zu realen Personen und zu Figuren seines Werks, zu Schriftstellern und Dichtern, Malern und Bildhauern, Musikern und Komponisten, Philosophen und Politikern und ihren Werken, zu Zeitströmungen und Ereignissen, zum Ersten Weltkrieg, zu Weißdorn, Eifersucht und natürlich der Madeleine, zu Themen und Namen also, die Prousts Werk durchziehen, und auch zur Proust-Kritik und weltweiten Rezeption.

Und zu Dingen des Alltags, die im Werk eine gewichtige Rolle spielen, wie Automobil und Telefon – oder auch das Fahrrad, dieses Attribut der weiblichen Hauptfigur Albertine, die in der Schar der Mädchen von Balbec als Einzige mit dem damals noch jungen und, was die Schicklichkeit der Benutzung durch Frauen anlangte, höchst umstrittenen Fortbewegungsmittel auftritt. Es ist Zeichen ihrer Unabhängigkeit und Ungreifbarkeit – so untrennbar von ihr, dass später, nach ihrem tödlichen Unfall, in der Reihe der Erinnerungsbilder dem Erzähler das von ›Albertine mit dem Fahrrad‹ zuerst erscheint.

Albertine, ›schnell und gebeugt über ihr mythologisches Rad, bei Regen im Harnisch ihres kriegerischen Gummimantels, der ihre Brust wölbte, das Haupt bedeckt mit dem Schlangenhelm‹ – so kannte man sie. Doch nun folgt im Fahrrad-Artikel nicht nur ein Zitat aus der Pléiade-Ausgabe, sondern auch ein Hinweis auf Entwürfe Prousts, in denen Albertine mit dem heiligen Georg Mantegnas verglichen wird. Und so nascht man, dadurch dass eben häufig auch Zitate aus den Vorstufen oder Varianten aus den Notizbüchern angegeben werden, am noch ausgebreiteteren Reichtum des Manuskripts, der zwar inzwischen in Editionen gegossen wurde, den aber nicht jeder Leser (bereits) besitzt.

Durch den Artikel wird man jedoch nicht nur mit einem neuen, bisher unbekannten Bild der Androgynität Albertines, das ihr maskuline Züge tragendes Amazonenwesen greifbar vor Augen führt, beglückt, sondern auch mit einer Reihe neuer Stichwörter versorgt, die man nun sofort aufsuchen muss: ›Balbec‹ und ›Albertine‹ und ›Mantegna‹ und ›Heilige‹ – aber einen Eintrag zu ›Heilige‹ gibt es nicht, was doch ein wenig erstaunt. Dafür findet man unter ›Mantegna‹ wieder Erhellendes, und so zieht man immer weiter durch den tausendseitigen Band, von Stichwort zu Stichwort, unterbricht die Lektüre eines Artikels, um einen anderen zu beginnen, notiert sich eine Angabe zu weiterführender Sekundärliteratur, die am Ende jedes Artikels angeführt ist – oder holt, weil ja immerfort Zitate aus dem Werk eingestreut sind, die zur erneuten Lektüre des Romans verlocken, die Bände der ›Recherche‹ herbei, beginnt zu lesen, das Werk und den Kommentar, um dann wieder zur Enzyklopädie zu greifen und dort einen Namen, eine Figur, ein Thema nachzuschlagen.


Was sich nach einer Weile einstellt, ist die Gewissheit, dass diese sorgsam gearbeitete und fakten- und gedankenreiche Enzyklopädie die Kenntnis des Werks noch einmal vertieft und immer wieder das glückliche Staunen hervorrufen wird, wie kunstvoll Motive und Figuren miteinander verwoben, Themen erst angedeutet und später ausgeführt werden; und gewiss ist ebenfalls, dass man beide, dieses Werk, das eine Gattung Roman für sich bildet, und die Enzyklopädie, die eine grandiose Erweiterung, Verschönerung, Vertiefung des bis dahin viel gebrauchten ›Marcel Proust Lexikon‹ von Philippe Michel-Thiriet ist, nie wird auslesen können.«


Luzius Keller (Hg.): »Marcel Proust Enzyklopädie – Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung«. Aus dem Französischen von Luzius Keller und Melanie Walz. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 1018 Seiten, 99 Euro

kultiversum, 15. Februar 2010
 

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