Literatur Man stelle sich vor, man habe eine Großmutter, die einen allmorgendlich zu einer Stunde Konversation empfängt. Man verbringe den Sommer am Golf von Neapel und habe dort allein für sich sechs Zimmer zur Verfügung. Beim Essen schaue die Galerie der Ahnen streng von den Wänden, die auf dunklen Teppichen ruhen und an denen sich Möbel, Vasen, Bücher häufen. Vor den Fenstern dunkle Vorhänge. Man selbst ist erst drei, vier, fünf Jahre alt und lebt in einem Märchenland, das von einem Schreckensland nicht zu unterscheiden ist. Wohin man schaut, wohin man geht, überall umgibt einen das enge Futteral aus Tradition und Besitz. Denn man ist der Spross einer großen Familie. Neun von ihnen, zwischen 1860 und 1880 geboren und später befreundet mit Proust, Inspirationsgeber für sein Werk, hat Ursula Voß in ihrem Band »Kindheiten um Marcel Proust« (Insel, 125 Seiten, 13,90 Euro) porträtiert in einem Sprachungetüm aus Bezügen und Anspielungen, das den Leser fesselt wie eine am Zugfenster vorbeifliegende Traumlandschaft – er betrachtet sie mit großen Augen, aber halten will er in ihr nicht.
Ursula Voß: »Kindheiten um Marcel Proust«. Insel 2011, 125 Seiten, 13,90 Euro
FAS Nr. 15, 17. April 2011, Feuilleton Seite 30