1. Januar

01.01.2025

1. JanuarIch hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen!

Grausamer Konformismus
Pasolini war sein Lehrer: Vincenzo Ceramis Roman »Ein ganz normaler Bürger« von 1976 erscheint erstmals auf Deutsch

Erdölkrise, galoppierende Inflation und wirtschaftliche Stagnation prägten das Italien der 1970er Jahre – begleitet wurde dieses zutiefst depressive Jahrzehnt von einem Vertrauensverlust in Politik und staatliche Institutionen, sozialen Unruhen, linkem und rechtem Terror. Das Wirtschaftwunder der fünfziger und sechziger Jahre wurde bezahlt mit massenhafter Entwurzelung und dem Untergang der bäuerlichen Kultur. Es erschuf in atemberaubendem Tempo einen neuen menschlichen Typus: den des Konsumenten, der mit Rabattschlachten, Immobilienkrediten und Ratenkäufen darauf trainiert wurde, immer auf seinen kleinen Vorteil zu schauen, egal zu welchem Preis für alles außerhalb seines eigenen winzigen Gesichtskreises.

Was diese unter enormer Geschwindigkeit ablaufende Transformation Italiens von einer Agrar- zu einer Industrie- und Massengesellschaft für den Einzelnen bedeutete, zeigt der 1940 in Rom geborene Vincenzo Cerami in seinem 1976 erschienenen Roman »Un borghese piccolo piccolo« – der jetzt endlich, in einer sehr gelungenen Übersetzung von Esther Hansen unter dem leider nicht ganz so gelungenen Titel »Ein ganz normaler Bürger«, auch auf Deutsch vorliegt. Cerami war ein typisches Nachkriegskind aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, das von den materiellen Segnungen desWirtschaftsaufschwungs profitierte. Im Alter von elf Jahren aber ereignete sich etwas ganz und gar Außergewöhnliches in seinem Leben: Cerami wechselte die Schule, und sein Italienischlehrer wurde der damals 28-jährige Pier Paolo Pasolini. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wandelte sich über die Jahre in eine Freundschaft, Pasolini wurde Leser und Lektor der Texte Ceramis, dieser wiederum Assistent bei dessen Filmen »Das 1. Evangelium – Matthäus« (1964), »Große Vögel, kleine Vögel« (1966) und »Teorema« (1968). Auch die Arbeit an Ceramis erstem Roman begleitetePasolini, vermittelte das Manuskript an einen Verlag und schrieb eine Ankündigung. Die Veröffentlichung jedoch erlebte er nicht mehr. In den frühen Morgenstunden des 2. November 1975, dem 35. Geburtstag Ceramis, wurdePasolini ermordet.

Der Roman lag da schon abgeschlossen vor, und doch wirkt er wie ein literarisches Echo auf diesen bis heute unaufgeklärten, äußerst brutal ausgeführten Mord, der Italien erschütterte. Cerami hat in seinem Text, der, oberflächlich betrachtet, wie eine Auserzählung eines Vorkommnisses aus der Zeitungsrubrik »Vermischtes« daherkommt, die bedrückende, zugleich spannungsgeladene Atmosphäre jener Jahre eingefangen, allerdings nicht aus der Sicht eines Intellektuellen oder linken Radikalen, sondern aus der des sogenannten kleinen Mannes, eines unauffälligen, gut angepassten Durchschnittsbürgers, der sich durch einen reinen Zufall als das Monster entblößt, das er über die Jahrzehnte geworden ist. Am Beispiel des Ministerialbeamten Giovanni Vivaldi, der kurz vor seiner Pensionierung steht und mit allen Mitteln versucht, seinen einzigen Sohn, Mario, gerade zwanzig Jahre alt und frisch gebackener Buchhalter, in derselben Behörde unterzubringen, erzählt Cerami vom grausamen Konformismus der aufstiegsbesessenen Kleinbürger, diesen »borghesi piccoli piccoli«, denen alles nurmehr Mittel zum Zweck des Vorankommens ist.

Durch einen Zufall wird der Sohn auf dem Weg zur Aufnahmeprüfung für die Beamtenlaufbahn von einem jugendlichen Bankräuber erschossen. Der Vater ist Zeuge der Tat und erkennt bei einer polizeilichen Gegenüberstellung den Mörder seines Sohns wieder. Er liefert ihn jedoch nicht der Justiz aus, sondern verfolgt vielmehr den jungen Mann auf eigene Faust, schlägt ihn nieder, versteckt den Ohnmächtigen in einer Hütte außerhalb von Rom, foltert ihn, bis der Junge schließlich stirbt. Das alles während er nebenher weiter ins Büro geht, sich um seine Frau kümmert, die nach dem Tod des Sohns einen Schlaganfall erlitten hat und seither gelähmt und stumm im Rollstuhl sitzt. Er begräbt den Toten ohne Anzeichen von Schrecken oder Reue, allein Angst vor Entdeckung treibt ihn, er feiert Abschied mit den Kollegen und geht in Pension. Am ersten Tag der Pensionierung findet er seine Ehefrau tot vor. Er bestattet auch sie. Dann sitzt er in der leeren Wohnung, in seinem leeren Leben und rechnet sich auf einem Zettel seine Pension aus. Alles, was geschehen ist, fügt sich umstandslos ein in die absurd-tragische Kontinuität dieses auf bloße Zwecke und bloße Dauer ausgerichteten Daseins und entblößt die, wie Italo Calvino es genannt hat, »geradezu wütende Lebensgier, die hartnäckig fortbesteht auf dem Boden einer desolaten Aushöhlung aller Gründe zu leben«. »Giovanni goss den Kaffee in sein Tässchen und blies mit gespitzten Lippen kreisend darüber. Er blies und dachte, dass nun rund fünfzehn Jahre lang jeder Morgen sein würde wie dieser.«


Vincenzo Cerami: »Ein ganz normaler Bürger«. Roman. Aus dem Iatlienischen von Esther Hansen. Mit einem Nachwort von Italo Calvino (übersetzt von Burkhart Kroeber). Alexander Verlag Berlin, 168 Seiten, 22 Euro

FAS Nr. 41, 13. Oktober 2024, Feuilleton Spezial Seite 34

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