Lohnt es sich zu leben?
In der Nacht vom 27. zum 28. August 1950 nahm sich Cesare Pavese, der große Einsame, Unglückliche der italienischen Literatur, in einem Turiner Hotel das Leben. Mehr als dreißig Jahre später macht sich die 1943 in der Türkei geborene, nach dem Militärputsch 1980 im Exil lebende Tezer Özlü auf zu einer Pilgerreise. Sie hat Pavese ins Türkische übersetzt, er war und ist ihr Heiliger des Schreibens. Von Westberlin aus, wo sie mit einem Stipendium des DAAD lebt, fährt die heimatlos gewordene Özlü nach Prag, dann über Wien nach Zagreb und Triest, schließlich nach Turin, wo sie bis ins Sterbezimmer Paveses vordringt. Die ganze Zeit über bewegt sie sich in der Welt der Lebenden wie der Toten, zwischen Traum, Vision, Erinnerung, Literatur und Wirklichkeit. Die langen Zugfahrten, sowie einige Nächte verbringt sie, voll Sehnsucht nach Liebe und körperlicher Berührung, mit diesem und jenem Mann, liebt, offen für jede Begegnung, sinnlich und intellektuell, sie besucht das Grab Kafkas in Prag, die 84-jährige Tochter Svevos in Triest, und immer schreibt sie, nachts und tags, im Zug, im Café, auf einer Parkbank, auf den Knien im Auto. In manischer Getriebenheit fügt sie Gedanken, Gefühle, kleine Beobachtungen, das Ritual des Rauchens, Kaffeetrinkens, die Qualen der Schlaflosigkeit und die Symptome langanhaltender Übermüdung, Zitate, Begegnungen und Gespräche zu einem Text des ästhetischen Widerstands zusammen. Die »Suche« nach dem, wofür es sich zu leben, zu lieben, zu kämpfen, weiterzumachen lohnt, die, obwohl auf Deutsch geschrieben, mehr als vierzig Jahre nur in der türkischen Übersetzung zu lesen war und jetzt, zu unserem großen Leseglück endlich im Original vorliegt, folgt dem inneren wie äußeren Gelände der Reise, dem unscharfen Grat zwischen Leben und Tod. Der kunstvoll gewebte Text entspricht keiner konventionellen Form, ist weder Tagebuch noch Roman noch Essay: Er ist ganz sie selbst, die Schreibende, Liebende, ist Tezer Özlü.
Tezer Özlü: »Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Variationen über Cesare Pavese«. Mit einem Nachwort von Emine Sevgi Özdamar. Suhrkamp, 208 Seiten, 22 Euro
FAS Nr. 50, 15. Dezember 2024, Feuilleton Seite 38