In der Leselampe des Literaturports empfehle ich Ágota Kristófs »Das große Heft«:
Sätze wie in Stein gemeißelt. Klare, harte Aussagen, ohne Wertungen. Als ich ein, zwei Seiten aus Ágota Kristófs »Das große Heft« gelesen hatte, war klar: Dieses Buch wird bleiben.
Zwei Kinder, Zwillinge, etwa zehn Jahre alt kommen mit ihrer Mutter aus der »Großen Stadt« zur Großmutter. Sie haben die alte, strenge Frau noch nie gesehen, die Mutter hasst sie, aber jetzt ist Krieg, die Stadt wird Tag und Nacht bombardiert, es gibt dort nichts mehr zu essen. Die Mutter hat keine andere Wahl: um die beiden Jungen zu retten, muss sie sie bei der Großmutter zurücklassen.
Das neue Leben der beiden wird aus ihrer Perspektive und von ihnen selbst erzählt, in Kapiteln, die zwei bis drei Seiten lang und, so die Erzählfiktion, aus den Aufsätzen komponiert sind, die die Kinder einander selbst aufgeben und dann gegenseitig korrigieren. Wenn sie sie für »gut« befinden, schreiben sie diese alle Gefühle und Wertungen vermeidenden Protokolle ab in das titelgebende »Große Heft«. So entsteht Stück für Stück eine Chronik ihres Lebens und das der Bewohner der »Kleinen Stadt« während Krieg, Besatzung und Nachkrieg.
Die Emotionen, die die Kinder sich systematisch mit verschiedenen Übungen abtrainieren, um das Leben ohne jeden äußeren Schutz und voller Grausamkeiten aushalten zu können, stellen sich umso heftiger beim Lesen ein. Die Sätze sind wie aus harten Notwendigkeiten geformte Schläge, die einen präzise und mit voller Wucht treffen.
Die zwei Brüder, symbiotisch miteinander verbundene Zwillinge, eine Aufspaltung einer Person in zwei, um die Abwesenheit der Mutter, die nicht auszuhaltende Verlassenheit zu ertragen, werden zwar zu Lügnern, Dieben, Bettlern, Erpressern, Mördern, handeln aber hier, wo kein Gott mehr ist, auch kein Glaube an Gott mehr, kein Recht und keine Moral, wo nur Willkür und Zufall regieren und das Recht des Stärkeren gilt, wie ein göttliches Strafgericht.
Ágota Kristófs »Das große Heft« ist ein Text wie Büchners »Lenz« oder Kafkas »Prozess«. Ein Buch, das ich immer wieder zur Hand nehme, wenn ich eine ästhetische Richtschnur beim Schreiben brauche. Eine gerade, mit verlässlichen Instrumenten geführte Wanderung durch das Dickicht der Sprache. Auch wenn ich dann selbst etwas anderes suche, versuche, ist es mir Kompass beim Schreiben.
Ágota Kristóf: »Das große Heft«. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Piper Verlag, München 1990. Originalausgabe: »Le grand cahier«. Editions du Seuil, Paris 1986.
Literaturport: Leselampe März, 17. März 2023