17. März

17.03.2024

17. MärzBuchbesprechung

Von nun an verstoßen

Dieser Roman wird polarisieren: Constance Debré verlässt ihr bisheriges Leben – den Mann, den Beruf und auch ihren Sohn, und hat ein radikales Bekenntnis darüber geschrieben

»Love me tender« von Constance Debré ist eine Sensation. Es ist ein Roman, der aufgrund seiner Sprache wie seines Inhalts den französischen Kulturbetrieb aufgemischt, seine Autorin zum literarischen Star und zu einer Stilikone gemacht hat. Die Reaktionen in Deutschland werden nicht ganz so stark sein, aber auch hierzulande werden Autorin und Roman polarisieren und sich ihre Fangemeinde erobern. Das ist sicher.

Aber der Reihe nach.

Die 1972 geborene Debré, Tochter des aus verarmtem baskischen Adel stammenden Models Maylis Ybarnégaray (das sich 1988 mit einer Überdosis das Leben nahm), und des Journalisten François Debré, dessen Familie seit mehreren Generationen der französischen Politik-Kultur-Elite angehört (Großvater Michel Debré war unter Charles de Gaulle Premierminister), wagt den Aufstand. Nach zwanzig Jahren Ehe, einem erfolgreich abgeschlossenen Jurastudium und einer vielversprechend angelaufenen Karriere als Anwältin, bricht sie aus dem goldenen Käfig ihrer Herkunft aus: Sie verlässt nicht nur Beruf, Ehemann und den gemeinsamen fünfjährigen Sohn, sie trennt sich auch von nahezu allem, was sie besitzt, und bekennt sich offen zu ihrer Homosexualität. Die attraktive, in ihrem Aussehen wie Verhalten angepasst auftretende Mittvierzigerin wird zu einer bitch, einer Asketin, einer Nomadin, die nur noch ein Ziel vor Augen hat: Sie selbst zu sein. Mittels des Sex – vor allem aber mittels der Literatur.

Der Roman genannte Text, der so stark autobiografisch grundiert ist, dass eine Trennung zwischen Autorin und Ich-Erzählerin bei der Lektüre schwerfällt, reiht sich ein in die berühmte Tradition der confessions, Bekenntnisse, diesem Scham und Angst überwindenden Schreiben, das von Augustinus über Rousseau bis hin zu Sartre, Genet, Ernaux und Edouard Louis führt. Sie alle haben eines Tages in ihrem Leben den Punkt erreicht, den Roland Barthes, Dante zitierend, »Mitte des Lebens« genannt hat: jenen Punkt, der keinesfalls rein zählerisch in der Lebensmitte liegen muss, sondern den Wendepunkt markiert, an dem die von anderen vorgeschriebene Bahn verlassen wird und man sich zu seinem Eigentlichen, seiner Berufung, bekennt.

Von diesem Punkt an, kann man alles tun (oder lassen): eine Verbrecherin werden, eine Einsiedlerin, eine Terroristin, eine Ordensgründerin, eine Schriftstellerin. Was Debré will, ist: schreiben. Und um so schreiben zu können, wie es ihr vorschwebt, muss sie mit allem und allen brechen, auch mit ihrem Sohn. Der Abschied von der Rolle als Mutter fällt ihr am schwersten. Denn hier ist ihr eine animalische Liebe im Weg, die so stark verknüpft ist mit gesellschaftlichen Erwartungen, dass eine Frau gar nicht weiß, wissen kann, was sie liebt, wen sie liebt, ob sie liebt, oder ob sie nur, unbewusst, den Ansprüchen der sie umgebenden Menschen, des sozialen Konstrukts genügt. Das größte Tabu im Leben einer Frau, die Mutter geworden ist: dem Wohlergehen ihres Kindes nicht alles zu opfern, aufhören, für es zu sorgen, es zu lieben, ihr Kind zu verlassen.

Zunächst probiert Debré ein parallel geführtes Leben: eine Woche einsiedlerische, promisk lebende, schreibende bitch, eine Woche Mutter-und-Sohn. Eine Lüge, die sie nach drei Jahren aufgibt. Sie zeigt, im wahrsten Sinne des Wortes, was in ihr steckt: rasiert sich die Haare ab, wechselt den Kleidungsstil, lässt sich tätowieren, lässt sich scheiden. Ab diesem Punkt kündigt ihr die Gesellschaft, ganz konkret in Form ihres Exmannes, der Anwälte und Richter, die übers Umgangsrecht entscheiden, jegliche Kooperation auf. Sie wird verstoßen.

Sie hat keinen Zugang mehr zu ihrem Kind. Sie leidet Höllenqualen. Sie erlegt sich Exerzitien auf, die ihr helfen, nicht zur Säuferin, Drogenabhängigen, Kriminellen zu werden. Sie geht wie auf Scherben, sie empfindet nichts mehr, gehorcht ihren Regeln. »Mein Job ist es, zu warten, zu schwimmen und Frauen zu ficken.«

Alles Verdrängte kehrt in ihren Träumen zurück. Debré träumt viel, von Treffen mit ihrem Sohn, den sie im realen Leben nicht sieht, vermisst, vielleicht aber auch nur vermissen zu müssen glaubt, denn sie gesteht auch: »ich könnte nicht so leben, wie ich jetzt lebe, ich könnte nicht ich sein, wenn er da wäre, ich müsste wieder umkehren, der Weg zurück erscheint mir sehr weit, ihn zu gehen, ein Ding der Unmöglichkeit. Ich würde gern alles aufgeben, neu anfangen, ihn vergessen.«

Das sind harte Sätze. Für ihren Sohn, für sie selbst und für jeden Leser und jede Leserin, vor allem diejenigen unter ihnen, die selbst Mütter sind. Debré hat den Mut, sie zu schreiben. Vielleicht auch aus einer Art Trotz heraus: Sie sind wahr, und zugleich Selbstschutz angesichts des Unumstößlichen. Es scheint unmöglich, für alle außer Debré, mit der Ambivalenz zu leben, ihr ihre Art zu lieben, zuzugestehen. Einer Frau wird sie nicht erlaubt.

»Warum sollte die Liebe zwischen einer Mutter und einem Sohn nicht genau wie jede andere sein? Warum sollten wir nicht aufhören können, einander zu lieben?« Mit diesen Fragen beginnt dieser grandios geschriebene, wütende, zärtliche Roman, in dem sich eine Frau nach einer Liebe sehnt, die der Freiheit, ihrer und unser aller Freiheit, nicht im Wege steht.


Constance Debré: »Love me tender«. Roman. Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes & Seitz, 152 Seiten, 20 Euro

FAS Nr. 11, 17. März 2024, Feuilleton Spezial Seite 58

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