7. April

07.04.2024

7. AprilBuchbesprechung

Messerscharf

Neu entdeckt: Anna Seghers’ Roman »Der Weg durch den Februar« von 1935 erzählt, wie Österreich in den Faschismus taumelte

Ein Roman wie ein früher Eisenstein, wie Fritz Langs »M«, wie »Kuhle Wampe«, wie ein Rosselini, wie ein Film noir – nur: besser! Scharfe Schwarz-weiß-Kontraste, schnelle Schnitte, Überblendungen, Montagen, rauh, genau, hart, kantig, aus dem Block gehauene Gesichter, Szenen, grell beleuchtet, im Dunkeln verschwindend. Seine Autorin, die 34 Jahre alte Anna Seghers, Kleistpreisträgerin, Kommunistin, lebte, als sie ihn schrieb, bereits seit einem Jahr mit Mann und zwei kleinen Kindern im Exil in Paris. Die Nazis hatten auf dem Berliner Bebelplatz ihre Bücher verbrannt, sie selbst war von der Gestapo verhaftet worden und hatte eine kurze Zeit im Gefängnis verbracht. Über die Schweiz war ihr mit der Familie die Flucht nach Frankreich gelungen.

»Der Weg durch den Februar«, so der Titel des Werks, ist Anna Seghers dritter Roman, und natürlich ist dieser, wie alle ihre Texte, ein hochpolitisches Buch. Handlungshintergrund ist der Aufstand von Teilen der österreichischen Sozialdemokratie gegen das Dollfuß-Regime im Februar 1934 sowie dessen blutige Niederschlagung und in dessen Folge Ausschaltung der österreichischen sozialdemokratischen Opposition. Seghers fuhr zehn Wochen nach dem Ende der Straßenkämpfe nach Graz, um zum Aufstand zu recherchieren; insbesondere zu Kolomon Wallisch, einem sozialdemokratischen Politiker, den die Rechte zu einem der Hauptverantwortlichen für den Februaraufstand erklärt,durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet hatte. Neben der Erzählung »Der letzte Weg des Kolomon Wallisch«, in der sie ein Porträt des von den Rechten als Bolschewist, von den Linken als Anti-Kommunist und Verräter betrachteten Sozialdemokraten zeichnet, entstand in dem darauf folgenden Jahr dieser Roman, der weit mehr als nur vom Februaraufstand erzählt: nämlich von der gesamtpolitischen Lage im Österreich zu Beginn der 1930er Jahre, dem Kampf der demokratischen linken Mitte gegen ihre Angreifer von rechts, ihrer Niederlage und dem Sieg des faschistischen Ständestaats.

Das ist ein vielschichtiges, hochkomplexes Thema, das nach einem vielsträngigen und vielfigurigen Erzählen verlangt. Seghers arbeitet mit atemberaubender Präzision in Sprache und Form und Figurenensemble. Jeder Satz, jedes Motiv, jeder Schauplatz, jede Figur hat eine Funktion, ist ein statisch notwendiger Träger der Erzählung, dennoch wirkt nichts bloß instrumentell, schablonenhaft, blutleer, papieren. Nein, alles ist anschaulich, strotzt von Kraft und Lebendigkeit. Die Figuren stehen paradigmatisch für politische Ansichten, Haltungen, Klassen und deren Handlungsweisen; zugleich sind sie alle individuell gezeichnet, haben ihre Schönheit, ihre Bosheit, ihre Feigheit und ihren Mut. Wie Seghers von den verschiedenen österreichischen Schauplätzen erzählt, von den Arbeiterbezirken Wiens, den Kampfschauplätzen in Linz, einem Bergbauerngehöft oberhalb von Bruck, wo eine Gruppe geflohener Aufständischer für eine Nacht Unterschlupf findet, lässt glauben, dass sie von kleinauf dort gelebt, alles mit eigenen Augen gesehen, mit allen Sinnen aufgenommen hat. Sie sieht jeden Stein, jede Hofeinfahrt, jede Mauer, jeden Fensterriegel, jede Treppenstufe, jeden Wechsel des Lichts vor sich, scharf gezeichnet, und setzt sie beim Schreiben hin, wie ein Maurer seine Ziegel setzt.

Dass man einiges, vielleicht sogar vieles beim Lesen nicht versteht, weil der Roman so sehr aus der Innenperspektive der Protagonisten heraus geschrieben ist, macht dabei gar nichts – der Kontext lässt sich mithilfe des Internets schnell während des Lesens in groben Zügen herstellen, und das ist allemal besser als einen dieser alleserklärenden historischen Romane zu lesen. Es geschieht mir nicht oft, dass ich eine Erzählung, die ich gerade beendet habe, gleich noch einmal lesen möchte, um sie, da ich sie einmal im Großen und Ganzen aufgenommen habe, im Detail zu genießen. Hier begann ich, kaum war ich durch, gleich noch mal von vorn. Die ersten Sätze klingen nach Kleist, »Michael Kohlhaas«, sind streng und genau wie eine Chronik. Dann löst sich das ins etwas weniger Archaisch-Strenge auf. Ein meisterhafter Sinn für Einstellungen, Szenenwechsel, Schnitte, neusachlich knappe Dialoge, eine messerscharfe und doch hochpoetische Metaphorik.

Aber Seghers erzählt nicht bloß, in ihrem Erzählen sind Rückgrat und Haltung. Sie ist eine kommunistische Schriftstellerin, was bedeutet: im individuellen Handeln sieht und zeigt sie »das Gesetz der Ereignisse«. Mit der Erzählung, die nichts von der kleinbürgerlichen Sentimentalität und Opernästhetik des Neoreaslismo oder Chaplins hat, nichts aber auch von der schlichten Dialektik und Puppentheaterpädagogik eines Brecht, gibt sie zugleich eine Analyse der politischen Kräfteverhältnisse und eine Erklärung, weshalb der Aufstand scheiterte, scheitern musste – nicht wegen des Versagens eines der Kämpfenden, sondern wegen der Uneinigkeit, schlechten Vorbereitung und Organisation ihrer politischen Führer. Diese Erkenntnis resultiert nicht aus einer einzelnen Szene oder Figurenrede, gar einem erzählerischen Kommentar, sondern aus der Summe aller Einzelmeinungen und -handlungen. Der Roman als Ganzes ist die Momentaufnahme einer protofaschistischen Situation und ihres Umschlagens in den Faschismus.

1935 erschien »Der Weg durch den Februar« im Pariser Exilverlag Edition du Carrefour. Es ist ein in der weiteren Öffentlichkeit eher unbemerkt gebliebenes Buch von Seghers, steht im Schatten ihrer weltberühmten Romane »Transit« und »Das siebte Kreuz«. Die Neuausgabe durch Michael Baicalescu, ehemals Chef des Mandelbaum-Verlags, in seinem erst vor ganz Kurzem gegründeten neuen Verlag Marsyas in Wien, der »achtlos weggeworfene literarische Kleinode bergen« will, bietet die Chance zur Neu- und Wiederentdeckung einer großen Autorin und eines literarischen Meisterwerks.


Anna Seghers: »Der Weg durch den Februar«. Marsyas, 276 Seiten, 28 Euro

FAS Nr. 14, 7. April 2024, Feuilleton Seite 36

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