»Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Medientheorie an der für ihre Unorthodoxheit bekannten Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, beginnt seinen Essay ›Müdigkeitsgesellschaft‹ mit einer Diagnose der pathologischen Landschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese sei weder bakteriell bestimmt, wie das 19., noch viral, wie das 20. Jahrhundert, sondern neuronal: Krankheiten wie Depression, ADHS, Borderline und Burnout beherrschten den medizinischen Diskurs.
Nicht Infektionen also machen uns krank, sondern Infarkte. Sie werden durch ein Übermaß an Positivität hervorgerufen. Anders als Bakterien und Viren, die für das immunologische System das Fremde, den Feind darstellen, gehören sie zum Eigenen, weshalb sie auch nicht durch eine immunologische Technik bekämpfbar sind. Han nennt das den ›Terror der Immanenz‹. Der Feind nistet gewissermaßen in den eigenen Eingeweiden, im eigenen Kopf und ist einer unmittelbaren Wahrnehmung unzugänglich. Angriff und Abwehr sind da untaugliche Begriffe, fragt es sich doch: Wer greift wen an, wer wehrt wen ab?
Den aus Immunologie und Neurologie übernommenen Begriffscocktail nutzt Han nun für eine Analyse unserer Zeit. Dabei nimmt er Abschied von der Disziplinargesellschaft, wie sie Foucault für den Beginn der Moderne beschrieben hat. Diese sei bestimmt gewesen von der Negativität des Verbots und der Trennung von innen und außen, Eigenem und Fremdem. Wir heute leben dagegen in einem immer dichter schließenden System der Selbstdisziplinierung. Überwachung und Strafe durch einen Dritten sind nicht mehr notwendig, die haben wir internalisiert. Zwar stehen wir damit in Kontinuität zum System der Negativität des Sollens bzw. Nicht-Dürfens, haben aber das Gefühl, frei zu sein. Total frei. Diese Freiheit ist jedoch nichts anderes als verinnerlichter Zwang. Und anstatt die Souveränität des Verstoßes, der Auflehnung, der Rebellion zu gebären, schlägt sie um in Erschöpfung, Ermüdung, Erstickung. Wer dem effizienzsteigernden entgrenzten Können, das sich in unaufhörlichen Projekten, Initiativen und (Selbst-)Motivationen niederschlägt, nicht gewachsen zeigt, endet als Depressiver und Versager. Die Depression, so Han, ›bricht in dem Moment aus, in dem das Leistungssubjekt nicht mehr können kann‹. Das ›Nichts ist unmöglich‹ der Gesellschaft schlägt um in das ›Nichts ist möglich‹ des Depressiven.
Soweit die Diagnose. Was aber schlägt Han vor als Therapie? Hier kommen Techniken des östlichen Denkens zum Zuge, Zen-Meditation, Kontemplation, die ›tiefe Langeweile‹, die ›Müdigkeit des nicht-zu‹. Strategien des Sich-Entziehens, der Entschleunigung, der geistigen Entspannung. Wie aber könnten diese unter den gegebenen Rahmenbedingungen einer Ökonomie des permanenten Multitasking, verstanden als die unaufhörliche gleichzeitige Bearbeitung von Vorder- und Hintergrund, im Zeitalter der Überkommunikation und Überinformation praktiziert werden? Ein Weg wäre die Wut. In ihr sieht Han eine Reaktion der Abwehr, die es erlaubt, ›einen Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen‹. Ohne Radikalität wird es also nicht gehen. Wir sollten uns Han als einen wütenden Mann vorstellen.«
Byung-Chul Han: »Müdigkeitsgesellschaft«. Matthes & Seitz, 68 Seiten, 10 Euro
kultiversum, 1. Dezember 2010