Joan Didion »Süden und Westen«

26.07.2018 Sprache/Meta

Joan Didion »Süden und Westen«Rezension

Süden und Westen
Joan Didion untersucht die Mythen Amerikas und ihrer Herkunft

 

John [Gregory Dunne, Didions Ehemann, mit dem sie seit 1964, also seit sechs Jahren, verheiratet war] und ich lebten auf der Franklin Avenue in Los Angeles. Ich hatte dem Süden noch einmal einen Besuch abstatten wollen, also flogen wir 1970 für einige Monate hin. Wir hatten vor, mit New Orleans anzufangen, und danach hatten wir keinen Plan. Wir folgten dem, was der Tag mit sich brachte. In der Erinnerung scheint es mir, als wäre John gefahren. Ich war seit 1942/43 nicht mehr hier gewesen, als mein Vater in Durham in North Carolina stationiert gewesen war, aber es schien sich nicht sehr verändert zu haben. Damals hatte ich gedacht, es könnte ein Artikel daraus werden.“


Joan Didion wurde 1934 in Sacramento, Kalifornien, geboren, und sie lebte auch lange Zeit an der Westküste, nach sieben langen Jahren, die sie in den Fünfzigern und Sechzigern für die „Vogue“ in New York gearbeitet hatte, heimwehkrank. Sie war ein richtiges Westküstenkind, und 1964 kehrte sie für zwanzig Jahre nach Kalifornien zurück, lebte in und bei Los Angeles. In den Süden, an den Golf von Mexiko und an den Mississippi, zog es sie, weil sie die Theorie verfolgte, „dass ich, wenn ich den Süden verstehen würde, etwas von Kalifornien verstehen würde, weil viele der kalifornischen Siedler über die Südgrenze kamen“, wie sie 2006 in einem Interview mit der „Paris Review“ erklärte. Letztlich wollte sie also dort etwas über sich selbst, ihre Vorfahren, ihre Art zu denken und über die verblasste, mythisch gewordene Zeit ihrer frühen Kindheit erfahren.

Nicht der Norden und Süden waren für Didion Gegensätze, oder der Osten und Westen, die in den Vereinigten Staaten meistens zusammengedacht werden, sondern der Süden und Westen. Der Süden ist fixiert auf seine Vergangenheit, ist sesshaft und, klimatisch bedingt, denn alles an den großen Flüssen und der Golfküste modert in Schwüle, Schlamm und Fäulnis, moribund; wohingegen der trockene, ewig sonnige Westen vom Pioniergeist beseelt ist, die Vergangenheit leichten Herzens wie eine zu klein gewordene Haut abstreift und hoffnungsvoll nach vorn, in die Zukunft schaut.

Didion fährt los mit einer Reihe Bilder im Kopf, wie es wahrscheinlich jedem von uns vor einer Reise geht. Es sind aber nicht rein projektive Bilder, der unzusammenhängende Filmstreifen ist auch genährt von den verblassten Erinnerungen aus den Monaten während des Zweiten Weltkriegs, als die Familie den in Durham stationierten Vater besuchte und im Haus eines „laizistischen Priesters“ wohnte, der abends mit seiner Frau und seinen Kindern auf der Veranda saß und Pfirsicheis aus Literbechern löffelte; als die Achtjährige Joan im dämmrigen Zimmer mit Papierpuppen spielte, die die Gesichter der Heldinnen aus „Vom Winde verweht“ trugen; als sie von den immer hungrigen Nachbarskindern lernte, rohe Kartoffeln zu essen. Und sie vermischen sich mit den Erzählungen eines Piloten, dem sie vor Jahren begegnet ist, der mit Kleinflugzeugen tropische Blumen von karibischen Inseln und aus Lateinamerika einflog.

Nun ist sie hergekommen, weil sie wissen möchte, was die Menschen im Süden denken und tun, wie sie sprechen und fühlen, um also die verschwommenen Bilder, die vielleicht ganz unzutreffende, zufällige Eindrücke sind und nichts mit dem wahren Süden zu tun haben, abzugleichen mit der Wirklichkeit. Die Schwierigkeit einer solchen Reise besteht, wie bei jeder Reise, darin, dass man, selbst wenn man das Gegenteil zu finden sucht und vielleicht sogar findet, doch immer wieder den alten Mustern begegnen und ihnen folgen wird, den Strukturen, die einmal im Kopf gewirkt wurden: den Gerüchen, den Düften, den beobachteten Gewohnheiten, aus denen sich Urteile und Vorurteile speisen, denn bei allem schwingt mit: So ist das hier, so macht man das hier. Aber dieses „man“ ist nie man selbst.

Didion hat ein großes Talent, Menschen zu finden und mit ihnen Gespräche zu führen, in Situationen zu geraten und diese festzuhalten, die wie die Bausteine zu einer Erzählung sind und zugleich etwas Typisches, Typisierendes haben (oder jedenfalls schafft sie es, diesen Eindruck durch ihre Schreibkunst zu erwecken). Natürlich sind die von ihr geschilderten Begegnungen, die Dialoge und Beobachtungen konstruiert, und wir wissen nicht und werden nie erfahren, ob sie sich wirklich so ereignet haben.

Aber was sich sagen lässt: Sie lesen sich gut. Selbst im Rohzustand: Joan Didion ist auch in ihren Notizen großartig. Zwar gibt es Wiederholungen, und natürlich ist nicht alles so ausgearbeitet und durchkomponiert wie in ihren anderen Artikeln und Büchern, aber dafür bekommt man Einblick in die Didionsche Werkstatt. Meisterhaft ihre Wiedergabe eines Abendessens bei einer Familie aus der gehobenen Mittelschicht in New Orleans. Wie sie die Szene baut, darin erkennt man die erfahrene und erfolgreiche Drehbuchautorin. Und zugleich ist es mehr, denn was Didion immer schafft, ist die Vermeidung jedes Klischees. Wie? Wahrscheinlich durch den vermeintlichen „Trick“, der ihr später, von der Kritikerin Barbara Grizzuti Harrison, vorgeworfen wurde: durch die Verbindung von bloß registrierenden, aufzählenden Passagen mit beschreibenden und reflektierenden, in denen Didion nicht nur ihr eigenes Empfinden und ihre Gedanken zur Sprache bringt, sondern sich selbst als denkende und handelnde Person inszeniert. Didion ist nie nur Autorin ihrer Texte, sie ist immer auch erkennbar deren Protagonistin. So gibt sie in der erwähnten Szene eben nicht nur die Ansichten des chauvinistischen, zum Jähzorn neigenden Gastgebers beim Abendessen wieder, sondern setzt sich selbst seiner Misogynie aus durch die ihre Autonomie wie ihren Beruf attackierende Frage, wer ihr denn erlaubt habe, allein „mit einem Haufen Marihuana rauchenden Hippie-Abschaums zu verkehren“.

Eine Zeitlang sah es für uns Leser und Leserinnen so aus, als würden solche Fragen irgendwann nicht mehr und von niemandem gestellt. Als würden Menschen, die solche Fragen stellten, irgendwann ins Grab sinken und die Werte der Aufklärung und der Emanzipation mit ihrem Tod zur allgemein gültigen Auffassung. Gerade erleben wir jedoch, dass diese Hoffnungen sich nicht erfüllen werden, dass eine Intellektuelle wie Joan Didion in vielen Weltgegenden, und nicht nur in vermeintlich exotischen Ländern, sondern in ihrem eigenen Land, nicht Bewunderung auslöst, sondern auf Unverständnis und Missbilligung stößt. Die Leute sprechen zwar Englisch, aber das Land erscheint eher wie ein mittel- oder südamerikanisches, erinnert uns an Russland und die arabische Welt, eine Welt der Unterdrückung und des Ressentiments. Es zeigt sich, dass Didion mit ihrem „dunklen und unausgereiften Gefühl“, von dem am Anfang des Buches die Rede ist, dem „Gefühl, das mich hin und wieder befiel und nicht schlüssig erklärt werden konnte, dass der Süden und besonders die Golfküste für Amerika einige Jahre lang das gewesen war, was, wie die Leute immer noch sagten, Kalifornien war und für mich gerade nicht zu sein schien: die Zukunft, die geheime Quelle negativer und positiver Energie, das psychische Zentrum“, dass dieses Gefühl sie nicht getäuscht hat.

Die regressiven Kräfte, die jede Veränderung der Verhältnisse als Angriff und nicht als Möglichkeit zu Erkenntnis und Entwicklung verstehen, die nur die Verteidigung ihrer Privilegien im Auge haben, unfähig, sie als solche zu begreifen, sind nicht am Wohl aller, gar an gerechter Verteilung von Macht und Ressourcen interessiert. Die Skeptikerin Joan Didion hält sich mit urteilender, verurteilender Parteinahme zurück. Sie hat nie an einen naiven zivilisatorischen Fortschritt geglaubt, die Zukunft der Menschheit ist für sie nicht heller als deren Vergangenheit. Und sie hat keinerlei Ambition zur Aktivistin. Didion ist Analytikerin, und ihr Blick auf die Verhältnisse, die Haltung, die sie beim Schreiben einnimmt, ihr Mut, sich ungeschützt in die Zentren „negativer und positiver Energie“ zu begeben – nachdenkend, schreibend, träumend und tatsächlich, nämlich nur mit einem Bikini bekleidet und mit offenem Haar in einem Motel-Swimmingpool im amerikanischen Süden –, zeugen von dem Willen zu verstehen. Vielleicht weniger die anderen als sich selbst. Als denkendes, fühlendes, handelndes Wesen in seiner Genese. „Der Sinn, ein Notizbuch zu besitzen“, hat Didion 1966 geschrieben, „bestand nie darin, exakt festzuhalten, was ich tatsächlich getan oder gedacht habe, und darin besteht er auch jetzt nicht. […] Sich daran erinnern, wie es war, ich zu sein: Darin liegt der Sinn.“

1976 besuchte Didion San Francisco, um für den „Rolling Stone“ über das Gerichtsverfahren gegen Patty Hearst zu berichten, die neunzehnjährig Millionenerbin, die 1974 von der linksradikalen Symbionese Liberation Army (SLA) entführt worden war und sich zwei Monate später, unter bis heute ungeklärten Umständen, der Terrorgruppe angeschlossen und an Banküberfällen beteiligt hatte. Didion schrieb dann aber nicht über Hearst (der Artikel für den „Rolling Stone“ wurde nie fertig), sondern über ihre eigene Kindheit und das westliche Geschichtskonzept.

Die Aufzeichnungen sind die Grundlagen für ihr später geschriebenes autobiographisches Buch „Where I Was From“, das 2003 erschien und in dem sie sich mit Kalifornien und ihrer Herkunft auseinandersetzte. Sie wollte immer wissen, woher sie kam und wie sie zu der geworden war, die sie war. „Eine sich selbst reflektierende Gruppe jeder Größe bringt Mythen über ihre Vergangenheit hervor: über ihre Herkunft, ihre Mission, ihre Rechtschaffenheit, ihre Menschlichkeit, ihre allgemeine Überlegenheit“, zitiert sie den Historiker C. Vann Woodward. Jede Familie ist eine solche sich selbst reflektierende Gruppe. Joan Didion versuchte die Mythen der ihren zu sehen, zu verstehen und sich aus ihnen zu befreien. Ein Akt der Aufklärung, den sie, schreibend, noch immer betreibt.


Joan Didion: »Süden und Westen«. Notizen. Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. Ullstein, 160 Seiten, 18 Euro

fixpoetry, 26. Juli 2018

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