Zahl um Zahl
An diesem Buch stimmt alles. Aber wie großartig »Alle zählen« von Kristin Roskifte ist, merkt man erst nach und nach. Es ist, als würde man immer noch eine Geheimtür öffnen und ein neues, überraschendes Buch im Buch entdecken. Zuerst denkt man, es sei eins dieser Bücher zum Zählenüben für Vorschulkinder, nur grafisch ansprechender, anders als die üblichen Bilderbuchtitel, die so rundgelutschte, verniedlichte Personen, Tiere, Sachen zeigen. Hier wirkt erst mal nichts kindlich, sondern eher wie für junge Erwachsene. Es geht (nächste Überraschung!) mit der Null los, dann erscheint ein Mensch, und dann auf jeder folgenden Seite immer einer mehr, bis es dreißig sind. Die haben wir alle gezählt und dabei gemerkt, dass da immer wieder dieselben Personen auftauchen, dass die Zählseiten gar nicht nur Zählseiten sind, sondern dass da viele verschiedene Geschichten erzählt werden von Menschen, die alle ihr eigenes Leben haben, die also alle zählen! So lernen wir nach und nach die Familie des Jungen von Seite eins immer besser kennen; sind gespannt, wo und wann der Mann mit dem Handy wieder auftaucht; fragen uns, ob die Frau, deren Handtasche gestohlen wurde, diese wiederbekommt. Es wird hin und her geblättert, das Kind sucht, erzählt, rät, die Geschichten, die wir entdecken, sind lustig und ernst, kein Thema und kein Gefühl wird ausgespart: Verbrechen, Krankheit, Tod, Geburt, Liebe, Freundschaft – alles findet sich in dem Buch. Am Ende sind da tausend Leute auf einer Wimmelbild-Doppelseite, dicht an dicht. Die haben wir dann nicht mehr gezählt, aber in der bunten Menge diejenigen gesucht, die wir ein bisschen kennenlernen durften. Großartig!
Kristin Roskifte: »Alle zählen«. Aus dem Norwegischen von Maike Dörries. Gerstenberg, 64 Seiten, 18 Euro, ab 5 Jahren
FAS Nr. 22, 6. Juni 2021, Feuilleton Seite 40