Dass die Mühlen von Bürokratie, staatlicher und behördlicher Willkür nicht nur langsam mahlen, sondern das Leben der ihnen ausgelieferten Menschen bis auf Blut und Knochen zerreiben können, ist eine Erfahrung, die Millionen Menschen im 20. Jahrhundert machen mussten. Die 1954 in Kursk geborene, seit mehr als dreißig Jahren in Wien lebende Schriftstellerin Ljuba Arnautović erzählt in ihrem Roman »Junischnee« eindrücklich vom Schicksal ihrer Familie, die Opfer eines solchen staatlichen Zugriffs wurde. Ihr Vater, Karl Arnautović, wurde 1934 als ein aus einer Kommunistenfamilie stammendes »Schutzbundkind« vor den auch in Österreich siegreichen Nazis in die Sowjetunion geschickt und kam dort zunächst in einem für sowjetische Verhältnisse geradezu luxuriösen, reformpädagogischen Kinderheim unter. Doch mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 werden Kinder wie Lehrer zu Staatsfeinden. Karl steckt man in Verwahranstalten, er reißt aus, kommt schließlich für zehn Jahre ins Arbeitslager. Was aus Vater, Mutter und dem älteren Bruder geworden ist, weiß er nicht. Nach seiner Entlassung gelingt es ihm, seine Mutter in Wien ausfindig zu machen, und später sogar, nach einer zermürbenden Zeit des Wartens, der immer wiederholten Anträge, Bittbriefe, zusammen mit Frau und Kind dorthin auszureisen. Aber das erträumte Leben in Freiheit will nicht glücken. Die Versehrten können sich untereinander nicht heilen, und auch die nächste Generation bekommt noch tiefe Wunden geschlagen. Aber sie ist es auch, die die Kraft aufbringt, sich mit dem Erlittenen auseinanderzusetzen, den Opfern zuzuhören, ihre Erinnerungen zu protokollieren und die Quellen zu studieren und daraus am Ende sogar Literatur zu machen. Wie unlarmoyant, aufrichtig, eindrücklich und poetisch Ljuba Arnautović von ihrer traumatisierten Familie zu erzählen versteht, das ringt höchste Bewunderung ab.
Ljuba Arnautović: »Junischnee«. Roman. Zsolnay, 191 Seiten, 22 Euro
zum 6. Juni 2021 für die FAS geschrieben, aber nicht erschienen