Literatur I »Zeitgenossen? Ich begann zu laufen, Proust lebte noch und beendete die Recherche.« So geht das schon mal los in Roland Barthes’ »Über mich selbst« (Matthes & Seitz, 24,80 Euro). Barthes-Leser wissen, dass Proust unter den Hausheiligen den ersten Platz einnimmt. Und je älter Barthes wurde, desto größer der Wunsch, es dem großen Romancier nachzutun. Gleich zu Beginn daher der Hinweis: »All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird«. Keine Autobiographie also, sondern eine Autofiktion, genährt aus dem stets potenten Zettelkasten, dem Erzeuger des Fragments, zu dem Barthes sich verdammt fühlt und das er preist, weil es die Tyrannei der Ordnung untergräbt, den Sprung erlaubt, das Schreiben in unendlich staffelbaren Metaebenen. Aber natürlich ist die formale Negation der Ordnung auch eine Ordnung, Barthes’ Buch eine raffinierte Komposition aus den verführerischen Momenten der Steigerung, des Innehaltens, der Abschweifung, der Verwirrung, der Unverständlichkeit, des Geistesblitzes, der Wiederholung, der Ironie, der Banalität, der Indiskretion, des Begehrens. Eines Begehrens, das nie gesättigt wird, sich nur immerfort verwandelt in Möglichkeiten der Textliebkosung – deren schönste die der aufblickenden Lektüre ist, erlaubt sie doch den eigenen Gedankenschmetterlingsflug.
FAS Nr. 17, 2. Mai 2010, Feuilleton Seite 28