Für den Tisch. Fast vollständig hat sich der Lichtbilderbestand zu Vorträgen der 1897 gegründeten Wiener Urania erhalten, ein Glücksfall, denn das sind rund 60.000 Glasbilder zu den verschiedensten Themen aus Geographie, Volkskunde, Kunst, Biologie, Medizin, Physik und Technik – und natürlich ging es hier, bei allen Bildungs- und Aufklärungsabsichten, immer auch um den Reiz des Fernen und Exotischen. Und das konnte, wie im Falle von Venedig, das von Wien aus in wenigen Stunden mit dem Zug zu erreichen war, auch topographisch nahe liegen, und dennoch so fern und fremd anmuten, allein durch die Art seiner Präsentation.
Denn in den 553 zwischen 1900 und 1937 gehaltenen Vorträgen zu Venedig fanden, da der Farbfilm noch nicht erfunden war, vor allem aufwendig von Künstlern handkolorierte Aufnahmen Verwendung, die neben den Hauptsehenswürdigkeiten, Kunstwerken, Innenräumen auch Genreszenen aus dem Leben der Venezianer sowie Licht- und Wettererscheinungen vorführten und die durch die heute etwas übertrieben wirkende Kolorierung, die an vollaufgedrehte Photoshopfarbkontraste erinnert, diese Märchenstadt, an deren wirkliches Wirklichsein man, selbst wenn man schon einmal dort war, nicht recht glauben kann, noch mehr entrücken, sie zu einem Traum werden lassen, dessen Bilder noch lange nachwirken und der jetzt im Winter, vor dieser reinen weißen Kulisse des Schnees und des wattigweichen Himmels die Stadt an der Lagune mit all ihren Farben, ihrer Pracht heraufbeschwört.
Eine Auswahl dieser Bilder hat Christian Brandstätter in einem Band seines Verlages zusammengestellt, es sind zwischen 1900 und 1920 entstandene Aufnahmen, und mit welcher Akribie betrachtet, untersucht man sie! Da Venedig eine Stadt ist, die sich, was ihr Äußeres betrifft, so wenig ändert – selbst die Tauben auf dem Markusplatz scheinen immer dieselben, unvergänglich, ewig –, sucht man nun nach winzigen Abweichungen zu dem in einem selbst gespeicherten Bild, gewinnt jedes Detail ungeheure Faszination, am meisten aber zieht das Auge die Mode an, die sich in diesen zwei Jahrzehnten so sehr geändert hat wie noch nie zuvor. Um 1900, als auch Proust mit seiner Mutter die Stadt besuchte (unwillkürlich hält man auf den Aufnahmen nach ihnen Ausschau), trugen die Herren noch steife Anzüge und Melonen, waren die Frauen in hohe Gewänder geschnürt – um 1920 aber dann ist alles leicht und offen und schwingend, die Röcke nur noch halbwadenlang und aus freudig im Wind spielender, hautschmeichelnder Seide, und wie die jeunesse dorée die Freitreppe des Hotels »Excelsior Palace« am Lido hinabschreitet, nein, eben nicht schreitet, sondern herabflutet, hüpft, swingt wie das helle, fröhlich blinkende Meer, auf hochhackigen Pantoffeln mit flauschigen Bommeln und in Strandpyjamas in Hellgrün und Blassblau und Orange und Gelb, da würde man gern sofort die Koffer packen und hineingehen in diese Bilder, in die leuchtende Vergangenheit.
»Venedig. Die Welt von gestern in Farbe«. Hg. v. Christian Brandstätter. Einleitender Essay von Petra Reski. Verlag Christian Brandstätter, 160 Seiten, mit 116 Abb. nach handkolorierten Glasdiapositiven, 29,90 Euro
FAS Nr. 44, 7. November 2010, Reise Seite V2