Carl-Christian Elze »diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde«

21.04.2016 Sprache/Meta

Carl-Christian Elze »diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde«Rezension

Kosmischer Staub
Carl-Christian Elze untersucht in seinen Gedichten die Fragilität der menschlichen Existenz


Carl-Christian Elze ist der poetische Existenzialist unter den jüngeren deutschsprachigen Lyrikern. Vielleicht weil er von Hause aus nicht nur Germanist, sondern auch Mediziner und Biologe ist, gelingt ihm ein besonderer Sound aus harten materiellen Gewissheiten (Geburt, Leben, Sterben, Tod) und zartesten Gefühlen – vollkommen unironisch und ohne jeden Schwulst entsteht so der Sound der Gegenwart: erwachsen, ernst, empfindsam, elementar.

In seinem neuen Gedichtband „diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde“ schreibt er über den Tod eines Freundes, den toten Vater, das eigene Vatersein, Kindsein, Dichtersein, Älterwerden, die Liebe und ihr Vergehen, und das alles immer im Angesicht eines kalten, schweigenden Kosmos, in dem der Mensch, dieses winzige, lächerliche Wesen, herumzappelt, für ein paar kurze Augenblicke, und sich dabei doch so unendlich wichtig nimmt und nehmen muss, um nicht unterzugehen. Eingängig sind diese Kopf- und Herzgedichte – und von großer Schönheit.

Lehrmeister ist Gottfried Benn, ihm ist Elze übers Medizinstudium und Dichtersein nah und teilt seine Welt- und Menschensicht. Er hat ihm, nach dem Besuch von Benns letztem Wohnsitz in Berlin, im 2009 erschienenen Band „gänge“, ein eigenes Gedicht gewidmet, „bozener straße, schöneberg“ – da heißt es gleich im ersten Vers: „im kühlen treppenhaus: passable leichentemperatur“. Elze beschönigt also nichts, auch hier, im neuen Band, in den Gedichten, die dem im See ertrunkenen Freund (oder war es Selbstmord?) zugedacht sind, bezieht er sich direkt auf Benns „Morgue“-Zyklus – „du hast mich mehr erschreckt als dr. benn / und dr. benn hat mich mal sehr erschreckt / mit worten, die wie kleine messer / durch leichen fuhren, bis alles fleisch / vom knochen hing / und nichts mehr übrig blieb / nur ein gedicht“. Aber bei Elze ist der Ton inniger, weicher, empfindsamer, was natürlich auch daran liegt, dass es da nicht um irgendeine aus dem Wasser gezogene Leiche geht, die auf dem Seziertisch liegt, sondern um den Freund, den er, bis er gefunden wurde, gar nicht vermisst hatte (was er sich vorwirft) und der jetzt tot ist, sehr fern und nah und ein Rätsel noch immer wie die fast 25 Jahre hindurch, die ihre Freundschaft gedauert hat.

Der Titel deutet darauf hin: Elze geht es ums Große-Ganze – Gott, die Religion, die eigene Religiosität, die Projektion von Sinn auf das Seiende, ohne die wir nicht existieren können, das schwere Geschenk der Freiheit, untrennbar verbunden mit dem Wissen ums Geborenwordensein und Sterbenmüssen. Das ist das kosmische Hintergrundrauschen des Bandes, vor dem die „Caput“ = Kopf, Haupt genannten, jeweils ein zentrales Motiv umkreisenden Kapitel in ihrer je eigenen Färbung und ihrem Thema erscheinen. Denn „diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde“ sind ja nichts anderes als wir, die Menschen. Die sich versuchen einzurichten und zurechtzukommen in dieser Welt, aus der und für die sie gemacht sind und die sie nicht fassen können, es trotzdem versuchen, mit Sprache, mit Kunst, mit Gedichten.

Elze ist ein Gott- und Sinnsucher, was auch impliziert, dass er versucht zu verstehen, warum der Mensch Gott braucht und, wenn er meint, ohne ihn auszukommen, dennoch nach einer Metaphysik verlangt, die ihm Halt gibt. Die reine Lehre, Leere von Biologie und Medizin, der Naturwissenschaften, die sich an Fakten hält, die sie in ihren Modellen selbst generiert und auf die Welt projiziert, genügt keinem – auch der, der vorgibt, nicht zu glauben, glaubt. In den Gedichten findet sich also eine naturwissenschaftlich grundierte, tiefenaufgeklärte Religiosität, die darin begründet ist, dass wir nicht Maschinen, sondern denkende und empfindende Lebewesen sind.

Leben und Tod beschäftigen Kopf und Herz. Sie sind und bleiben Mysterien. Mysterien der Verwandlung, denn unablässig geht ja das eine in das andere über, wir können gar nicht sagen, wo der Tod beginnt, da er neues Leben schafft. „Media vita in morte sumus“ – mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen – bedeutet nicht nur, dass der Tod um uns herum ist, sondern dass wir, lebendig, Leben und Tod zugleich enthalten, unaufhörlich entsteht Leben in und mit uns, stirbt das Lebendige in uns ab. Wir sind im Übergang, im Austausch, unablässig. Nur unser Versuch, zu etwas Starrem – einer festen Identität – zu werden, erzeugt die Angst, uns zu verlieren.

Uns aus dieser Erstarrung herauszuführen und auch mental wieder in Fließendes zu überführen ist eins der großen Geschenke der Kunst. Elze gelingt es mit seinen Gedichten, die „kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde“, zu denen ja auch seine Leserinnen und Leser gehören, ins Schaukeln zu versetzen. So hin und her, auf und nieder schwingend spüren sie nicht nur ihre Verletzlichkeit und ihre Angst, sondern auch Freude und Übermut und können sich öffnen für das Wunder des Lebendigseins und der Liebe. Der Mensch – nur kosmischer Staub? Mag sein. Aber doch beseelter, in stetigem Austausch befindlicher, immerfort kommunizierender und fühlender Staub.


Carl-Christian Elze: »diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde«. Mit Illustrationen von Christoph Vieweg. Verlagshaus Berlin, 159 Seiten, 13,90 Euro

fixpoetry, 21. April 2016

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