Soziologie und Autobiographie
Annie Ernaux verbindet in »Die Jahre« ihre individuelle Lebensgeschichte mit der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs
Wie Marguerite Yourcenar mit ihrer dreibändigen Familiengeschichte »Das Labyrinth des Lebens« hat Annie Ernaux mit den drei Büchern »Das bessere Leben« (dt. 1986), »Das Leben einer Frau« (dt. 1993) und nun »Die Jahre« eine Trilogie über Vater, Mutter und sich selbst verfasst. Aber im Gegensatz zu Yourcenar, die väterlicherseits aus großbürgerlichem und mütterlicherseits aus adligem Hause stammte und eine Kindheit in Schlössern und auf Reisen verbrachte, fernab von der räumlichen und geistigen und auch finanziellen Enge, in der Ernaux aufwuchs, liefert diese keine romaneske Familienschilderung, sondern schreibt, man möchte sagen, ihrer Herkunft angemessen, in einem sachlichen, nüchternen Stil.
Annie Ernaux wurde 1940 in der Normandie geboren und verbrachte ihre Jugend in Yvetot, einem 12 000-Einwohner-Städtchen zwischen Rouen und Le Havre. Als der Vater, ein Fabrikarbeiter, später kleiner Laden- und Cafébesitzer, starb, hatte sie eben ihr Staatsexamen bestanden, sie wollte Studienrätin werden. Als erste Akademikerin in der Familie empfindet sie das Erreichte als Verrat an ihrer Herkunft. Sie versucht die Entfremdung wiedergutzumachen, indem sie, über die Eltern und sich selbst schreibend, ihre Kindheit wiederauferstehen lässt und erzählt, woher sie kommt und wie sie zu der geworden ist, die sie heute ist. Aber natürlich weiß sie – das beweist das dem Buch als Motto vorangestellte Zitat von Genet: »Schreiben ist die letzte Zuflucht, wenn man verraten hat« –, dass der »Verrat« nicht gesühnt werden kann, dass das Schreiben den Graben zwischen ihr und der Familie letztlich nur noch vertieft. Mehr denn als Rechtfertigung vor den Angehörigen dient es der Selbstvergewisserung: »Die Jahre« sind die Erzählung ihrer Genese als Schriftstellerin, der es möglich wurde, dieses Buch zu schreiben (für das sie, nach eigener Aussage, zwanzig Jahre gebraucht hat – und es ließe sich sagen: ihr ganzes Leben, denn ohne dieses Leben hätte sie keinen »Stoff« gehabt, um es zu schreiben).
Dabei ist Ernaux klar, dass nicht nur ihre Eltern und ihre Herkunft sie geprägt haben, sondern ebenso die Zeit, in der sie aufwuchs, das Große Ganze, das wir Gesellschaft nennen. Die soziologische Sichtweise spielt in Ernaux’ Werk eine bedeutende Rolle, es ist stark beeinflusst von Pierre Bourdieu, auch dieses neue Buch »Die Jahre«, in dem sie selber im Mittelpunkt steht. Und indem sie doch letztlich, als Ich, nicht vorkommt: denn es ist keine Autobiographie der üblichen Art. Ernaux anonymisiert sich zu einem unpersönlichen »man« oder pluralen »wir« (das Französische hat es da einfacher, bedeutet doch »on, »man, umgangssprachlich gleichzeitig auch »wir«), macht ihren Lebenslauf zu einem für diese Zeit typischen. Kürzere Passagen persönlicher Gedanken und Erfahrungen wechseln ab mit Aufzählungen und Beschreibungen des französischen Lebens einer Frau ihrer Generation, der Jahre zwischen 1945 und 2007. Wir erfahren viel über Kleidung und Essen, über Reklame und Konsumverhalten, über Wiederaufbau und Rückständigkeit. Genau das ist Ernaux’ Ziel: »Sie will in einem individuellen Gedächtnis das kollektive Gedächtnis finden und so die Geschichte mit Leben füllen«, steht wie ein Resümee am Ende des Buches.
Das liest sich erst einmal aufregend und wirkt erhellend. Auf die Dauer aber ermüden die Aufzählungen. Es fehlen die analytische Tiefe, die Dichte poetischer Beschreibungen, das Buch bleibt flach, gleitet, ohne Widerhaken, ja, fast ganz ohne Emotionen am Leser vorüber. Wie in einer Art Zeitraffer fliegen die Jahre vorbei, das Gleichbleibende an Kindheit, Adoleszenz, ersten Verliebtheiten, Studium, Heirat, Familiengründung tritt einem geradezu lähmend vor Augen – man möchte ausrufen: Ein Leben von der Stange! Und so leben wir, mehr oder weniger, alle! Wie deprimierend.
Natürlich ist es richtig, dass sich unsere Leben gleichen – aber liegt es nicht vor allem an dem Abstand, den wir zu ihm einnehmen, ob es uns aufregend oder nichtig erscheint? Die ungeheure Melancholie von »Die Jahre« stellt sich dadurch ein, dass von allen Ereignissen, selbst Aufbrüchen, politischen Umstürzen, kriegerischen Konflikten aus der Distanz der fernen Jetztzeit erzählt wird, nichts wird vergegenwärtigt, sondern allen Ereignissen ist bereits eine gleichgültig machende Vergänglichkeit eingeschrieben, ihre Wiederhol- und damit Austauschbarkeit.
Rhythmisiert wird das Buch durch eine Reihe privater Fotos, die die Autorin im Verlauf der Jahre zeigen: als Baby, im Alter von vier Jahren, als Achtjährige, mit fünfzehn und so weiter. Und durch das wiederkehrende Ritual festlicher Familienessen, bei denen sie erst nur als Kind dabeisitzt, dann aufmerksam Zuhörende und schon fast in den Kreis der Erwachsenen Aufgenommene, schließlich selbst Gastgeberin ist, für ihre Eltern, ihre Kinder und Enkel. In diesen kurzen Passagen wechselt der Ton, er wird persönlich, und sofort erwachen unser Interesse und unsere Anteilnahme. Die Erzählung bekommt Tiefe, wir verharren in einer Jetztzeit, die anschaulich werden lässt, wovon erzählt wird, und die ihre Protagonistin zur Einzigartigkeit erhebt, in dem das Allgemeine enthalten ist. Nur so aber können wir Empathie empfinden, indem wir im anderen uns selbst sehen, nicht als austauschbares Massenpartikel, sondern als Individuum.
Man kann sich gut vorstellen, das Buch zu eigenen lebensausgreifenden Erinnerungen und mit ihnen verbundenen Reflexionen zu nutzen. Die Sätze Ernaux', die Aufzählungen und Zusammenfassungen, fungierten da wie Stichpunkte, zu denen das, was das Leben ausmacht, erst noch hinzutritt: die Gedanken und Gefühle nämlich (so widersprüchlich und unausgereift sie auch sein mögen), die die menschlichen Beziehungen als Handlungen und Worte bestimmen.
Annie Ernaux: »Die Jahre«. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 256 Seiten, 18 Euro
fixpoetry, 27. Januar 2018