Der Aufflug bleibt aus
Elke Erb kommentiert Gedichte des letzten Jahrzehnts
Einen Gedichtband mit Kommentar zu veröffentlichen – nicht dem Kommentar eines Herausgebers, Kritikers, Literaturwissenschaftlers, Übersetzers, sondern der Dichterin selbst – ist ungewöhnlich. Mehr als ein paar Annotationen, Fußnoten, ein knapper Appendix sind nicht üblich.
Elke Erb aber hat im Verlag des poetenladen in der Reihe Neue Lyrik eine Auswahl ihrer Gedichte aus den Bänden „Sonanz“ (2007), „Meins“ (2010), „Das Hündle kam weiter auf drein“ (2013) und „Sonnenklar“ (2015) herausgegeben und mit Kommentar versehen. Letzterer steht immer rechts auf der Seite zum linksseitig abgedruckten Gedicht. Die kommentierte Stelle wird fett gedruckt wiederholt, dann folgt eine Erklärung, Verdeutlichung, bisweilen Übersetzung. Ja, Übersetzung. Denn ursprünglich war der Kommentar nicht für eine deutschsprachige Ausgabe gedacht, sondern für den an einem slowenischen Auswahlband arbeitenden Übersetzer, als Erläuterung, Verdeutlichung vermeintlich schwieriger, dem Übersetzer eventuell Schwierigkeiten bereitender Stellen – mit Vorschlägen, wie sie in der fremden Sprache zu packen sein könnten.
Ein Kuriosum, möchte man meinen, die Übersetzerhilfe jetzt als Buch für deutsche Leser und Leserinnen herauszubringen. Denn vieles von dem, was dem fremdsprachigen Übersetzer unklar oder undeutlich sein mag, weshalb er froh ist, einen Kommentar der Dichterin selbst zu Rate ziehen zu können, dürfte der poetenladen-Leserschaft keine Verstehensprobleme bereiten. Ein Beispiel:
[Gedicht] „Als ob es sich hinter den Brauen bewölkt mir.“
[Kommentar] „bewölkt: verfinstert – vom bewölkten Himmel abgeleitet; die bewölkte Stirn.“
Braucht es diese Erhellung für Deutschmuttersprachler? Ist es für sie interessant, dass die Dichterin glaubte, die Stelle dem Übersetzer erklären zu müssen? Und mehr noch: Lenkt der Fast-Zeilen-Kommentar nicht von der Lektüre ab? Stört er nicht den Eigenrhythmus des Lesens – und hier: die eigene Vorstellung von einer bewölkten Stirnhöhle? Die sich jetzt eben nicht mehr bewölkt, sondern verfinstert?
1987 erschien im Aufbau-Verlag Erbs Band „Kastanienallee“. Untertitel: „Texte und Kommentare“. Auch dort begleitet also ein Kommentar die Gedichte/Texte, aber nicht als Zeilenkommentar für einen (potentiellen) Übersetzer, sondern ganz klar als der Versuch einer (Selbst-)Verständigung: über Bau, Entstehungsprozess, sprachliche Eigenheiten – etwa die syntaktischen oder grammatikalischen Ellipsen (die berühmten Erbschen Verknappungen!), über Poetologisches. Das Buch ist Gedichtband – und versteckte, sich das Zurückliegende noch einmal vergegenwärtigende, Kommendes entwerfende Poetologie.
Gleich das erste, nur drei Zeilen lange Gedicht – nicht das erste Gedicht eines neuen Bandes, sondern die „erste ,Sache, die mir [ihr, Elke Erb, Anm. B. H.] im Leben auffiel!ʻ“ – provoziert einen sechsseitigen „Kommentar“. In dem Erb weniger diesen ersten Text kommentiert als eine Rechtfertigung, Erklärung, Überlegung dazu abgibt, weshalb sie den Texten überhaupt einen Kommentar beigesellt: Nach vier veröffentlichten Gedichtbänden will sie hier, für sich und öffentlich, darüber nachdenken, was für sie dichten heißt, schreiben, einen Band komponieren, einen komponierten Band verweigern – und ihn gerade dadurch schreiben, als: „Texte und Kommentare“, das fünfte Buch.
Mir schwebt vor, den Denkprozeß zu erfassen,
dessen Ausdruck das Reden und Schweigen der Texte ist.
Vermutlich wird er sich als Schreibprozeß darstellen,
d. h. Die Texte als Erlebnisse –
Ermöglichungen (Wege) –
operative Orientierungen
auf ihrem Grund abspiegeln.
Es könnte sein, daß aus solchen Versuchen (deren Erfolg allerdings zunächst
von der Erinnerung, vom Wiederbeleben der Entstehungssituation abhängt),
eine Figur der Entwicklung in Erscheinung tritt,
die in eben jenem Hintergrund, in dem die einzelnen Eindrücke sich auch sonst
zu einem Gefühl der Abrundung (Ganzheit, Vollendung) sammeln,
den Band bescheiden, aber leibhaft (leibhaft, aber bescheiden)
zu einem Buch wirkt,
selbst dann, wenn sie, die Figur des Werdens, tatsächlich heterogene und
divergente Richtungen aufweist und selbst auch unschlüssig bleibt.
Kommentar eins ist also Metatext zu Text/Gedicht eins wie zum ganzen Band „Kastanienallee“, eine wundervolle, souverän-neugierige Expedition in die Bedingtheit des eigenen Schreibens wie des Schreibens, Dichtens überhaupt. Und „Kastanienallee“ – ein offen-geschlossen komponiertes Werk, geboren aus Lust, Freiheit und Notwendigkeit.
Dagegen wirkt der aktuelle Band eher wie ein Kind des Zufalls. Zwar beäugt und wendet auch er die trockene, leichte, strenge, zähe, liebliche, herbe, magere, mutige Ernte der zurückliegenden Jahre – und zeigt, dass der Text, auch der bereits veröffentlichte, seiner Verfasserin, noch, wieder, Rätsel aufgibt, dass er sie anregt zu Neuem, ihr die Möglichkeit zu Vertiefung, Reduktion, Essenz schenkt, dass er ihr Wortbruch ist, aus dem sie sich als Dichtende nährt, und Zeitkapsel, in der sie sich, ihr Leben, ihr Werden, ihr Schreiben findet. Und natürlich ist vieles auch für den Leser, die Leserin anregend, aufschlussreich, manchmal elektrisierend, immer dann nämlich, wenn Erb abhebt zu einem ihrer poetologischen Flüge, in denen sie fein und leicht bedenkt, deutet, was sie da gemacht hat, sich Fingerzeige gibt, der Kommentar also das Feld der bloßen Worterklärung verlässt, zum dichterischen Autokommentar wird und den Text zurück in das Prozesshafte des Dichtens holt. Aber die Dichte und Stringenz, der Mutwille und Schabernack, das Aufklappen und Ineinander der Ebenen von Text und Metatext, wie in „Kastanienallee“ ergibt sich nicht. So ganz wird man daher den Eindruck, da sollte eben noch ein Buch mehr her – durchaus lesenswert, aufschlussreich fürs Einzelne, aber ohne den beseligenden Aufflug, den Erb so oft schenkt –, nicht los.
Elke Erb: »Gedichte und Kommentare«. Herausgegeben von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt und Ralph Lindner. poetenladen Leipzig, 200 Seiten, 16,80 Euro
fixpoetry, 23. September 2016