Lieben
Wie sollte man Anna Kordsaia-Samadaschwilis Erzählkunst beschreiben? Leichthändig und scheinbar nur Lust und Laune folgend, fügt sie Satz um Satz aneinander, und doch entsteht so nach und nach ein wundersam kunstvoll gebautes Haus, bewohnt von skurrilen, liebenswerten Charakteren, die vor allem eins sind: große Lebenskünstler und Liebende. Die Männer lieben nicht nur die Frauen und die Frauen die Männer, und beide mit ganzem Herzen und voller Zärtlichkeit die Kinder, vor allem lieben alle das Leben, auch wenn es hart und ungerecht ist, voller Leid und Krankheit und Einsamkeit. »Sinka Mensch«, der in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienene dritte Roman Kordsaia-Samadaschwilis, aus dem Georgischen souverän übersetzt von Sybilla Heinze (...), erzählt von den Bewohnern eines typischen, halbverfallenen Altstadthauses in Tiflis, die nicht nur Nachbarn, sondern eine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft sind. Hier gibt es, auch wenn man sich nicht immer grün ist, kein Aneinandervorbeischleichen, kein Bloßgrüßen und Türzu, hier wird alles geteilt, der Wein, das Brunnenwasser, die streunende Katze, die Freuden und Schicksalsschläge, die wahren und die bloß ausgedachten Wunder. Ein Buch voller Wärme, am besten abends auf dem Balkon bei einem Glas Rotwein zu lesen. Danach träumt es sich gut.
Anna Kordsaia-Samadaschwili: »Sinka Mensch«. Aus dem Georgischen von Sybilla Heinze. Frankfurter Verlagsanstalt, 176 Seiten, 22 Euro
FAS Nr. 25, 21. Juni 2020, Feuilleton Seite 46