Endlich bekommt Emmy Hennings eine Werkausgabe – der erste Band mit drei kurzen Romanen ist da
Die 29-jährige Emmy Hennings kommt 1914 in Untersuchungshaft, weil sie angeblich einen Freier bestohlen hat. Kurz nach ihrer Entlassung wird sie erneut verhaftet, diesmal weil sie eine Freundin, deren Mann während seines Fronturlaubs nach Österreich desertiert ist, aufs Polizeipräsidium begleitet, wo diese für sich und die Kinder Reisepässe beantragen will. Sie werden der Passfälschung und Fluchthilfe verdächtigt, Hennings fünf Wochen lang in „militärische Schutzhaft“ genommen. Sie beteuert ihre Unschuld, wird aber immer wieder verhört – sie glaubt, man werde sie lebenslänglich einsperren.
„Mir ist, als hätte ich für immer einen Schock bekommen, einen Knacks, der sich nicht rückgängig machen lässt“, schreibt sie über die sie traumatisierenden Erlebnisse. Ihre Möglichkeit der Bewältigung war die künstlerische Be- und Verarbeitung. Zunächst schrieb sie Gedichte, dann den Roman „Gefängnis“, der 1919 erschien; dann noch zwei weitere Romane, „Das graue Haus“ und „Das Haus im Schatten“, die beide zu Lebzeiten unpubliziert blieben. Aber auch in ihren autofiktionalen Texten und den Erinnerungsbüchern an ihren damaligen Freund, Liebhaber und Mentor und späteren Ehemann Hugo Ball finden sich kürzere und längere Passagen, die auf die Erfahrungen im Gefängnis zurückgehen.
Die Erlebnisse waren und blieben für sie existentiell: das Gefängnis der Ort, an dem sich unausweichlich die Frage nach dem Verhältnis von Gut und Böse, Schuld und Strafe stellt; die Auswirkungen des Freiheitsentzugs, der permanenten Überwachung auf Physis und Psyche; das Ausgeliefertsein ans Aufsichtspersonal und das sich ständig wandelnde Verhältnis zu den Mitgefangenen, das Anhören-Müssen ihrer Geschichten, das Aushalten-Müssen ihrer Gewohnheiten und Ticks.
Die Entstehungsgeschichte des ersten Romans lässt sich nur skizzieren, verlässliche Angaben sind, da Hennings Daten, Fakten, Begegnungen stets verwandelt und fiktionalisiert hat, kaum möglich. Zudem sind durch die Kriege viele alternative Quellen verloren gegangen. Kurt Wolff zufolge hatte sie seit 1913 an einer Autobiographie gearbeitet; möglicherweise verwandelte sich diese jetzt unter den neuen belastenden Eindrücken allmählich in das „Gefängnis“-Manuskript. Sie arbeitete immer wieder über Monate intensiv daran, war aber auch durch äußere Umstände, vor allem materielle Not, immer wieder längere Zeit am Weiterschreiben gehindert.
Seit Mai 1915 lebte sie mit Hugo Ball an wechselnden Orten in der Schweiz, nach Deutschland kamen die beiden nur noch besuchsweise und für Verhandlungen mit Redakteuren und Verlegern. Dennoch war der deutsche Buchmarkt für sie der wichtigere, hier ,und nicht in der Schweiz, wollten sie sich durchsetzen. Hennings hatte einflussreiche Fürsprecher: Albert Ehrenstein, Leonhard Frank, Franz Werfel lasen das Manuskript und setzten sich bei Kurt Wolff und Erich Reiss für eine Veröffentlichung ein. Bei Reiss, einem Verleger, der in den Jahren 1919 bis 1922 erfolgreich mit einem umfangreichen Programm operierte und im Bereich Belletristik einen eindeutigen Schwerpunkt bei der expressionistischen Literatur setzte, hatte sie schließlich Erfolg.
Dass Hennings' Roman hier herauskommt, ist für ihren literarischen Durchbruch entscheidend und eröffnet eine länger andauernde Zusammenarbeit; drei weitere Bücher von ihr werden bei Reiss erscheinen. Auch zur positiven Aufnahme des Romans trägt der ausgewiesene Avantgarde-Verlag bei. Die Resonanz insbesondere in Berlin und Wien, den damaligen Zentren der deutschsprachigen Literatur-Moderne ist groß; sowohl bei eher formal und sprachlichargumentierenden Rezensenten als auch bei gesellschaftskritischen. Beide Muster lassen sich bis heute gut nachvollziehen. Der Text überzeugt – überwältigt geradezu – literarisch durch seine sprachliche Urwüchsigkeit und Kraft, seine Perspektivsprünge, seine Dialoge, seine Unter- und Innensicht; und er schockiert durch den Einblick in einen repressiv agierenden Polizei- und Justizvollzugsapparat.
Das äußere Geschehen – Verhaftung, Verhör, Abgabe der persönlichen Gegenstände und der Kleidung, Essenausgabe, Krankheit und Verlegung auf die Krankenstation, verordnete Beschäftigungen, Hofgang – wird durch Hennings' konsequent introspektive Sicht verzerrt, vergrößert, vergröbert, in Raum und Zeit verabsolutiert; es scheint nichts anderes mehr zu geben als die paar Quadratmeter der Zelle und das elend sich dehnende Jetzt – kein früheres Leben, kein Draußen, keine gefängnislose, selbstbestimmte Zukunft. Realiter sind sie verloren, sie existieren aber weiter in Träumen, Visionen, Hoffnungen, in denen die Vergangenheit verklärt wird und das gegenwärtige Dasein eine von Leiden geprägte, religiöse Dimension annimmt. Ruhelos kreisen die Gedanken um die Begriffe Sünde, Schuld, Buße, Vergebung.
Hennings' Roman ist keine Gefängnis-Reportage, sondern ein Erlebnisbericht, der auf das innere Erleben und Empfinden setzt. Er hat nicht die parabelhafte Dichte, Unbestimmtheit wie Kafkas „Prozess“ oder „Schloss“ – aber die Atmosphäre ist ähnlich düster, klaustrophobisch, klebrig, übermächtig, erdrückend. Menschen und Gegenstände haben ein Doppelgesicht: einerseits große Anschaulichkeit und Präsenz, andererseits verschwimmende Konturen, verursacht durch die maßlose Unruhe der Ich-Erzählerin und Protagonistin. Ihre Sprache springt wild herum, hält Wirklichkeitsfetzen wie Beutestücke, beißt zu, lässt fallen – sie ist wie ein nervöses Tier, das durch seinen Käfig tigert.
Ein Mensch, der Mensch bleiben will, mit all seinen Facetten, Täuschungsmanövern, wechselnden Identitäten, seinem Spiel- und Verwandlungstrieb, der aufbegehrt gegen das Festgelegtwerden auf eine einzige – kriminelle – Person: dasist „Gefängnis“. Die beiden anderen Romane – eine neue Auseinandersetzung und Formung der Gefängnis-Erlebnisse in „Das graue Haus“ und eine komplette Überarbeitung und Erweiterung von „Gefängnis“ in „Das Haus im Schatten“ – haben nicht die Wucht und Konzentration des Erstlings. Interessant sind sie trotzdem – auch weil man so vergleichenkann, wie eine Autorin mit demselben Thema auf drei verschiedene Weisen umgeht, wie dieselben Erfahrungen zu ganz unterschiedlichen literarischen Formungen führen.
Den Herausgeberinnen Christa Baumberger und Nicola Behrmann ist für die sorgfältige Edition zu danken, dem Verlag für die erste kommentierte Studienausgabe der Werke von Emmy Hennings, die meist verstreut in Zeitschriften und Anthologien erschienen sind und deren Bücher zum größten Teil nur schwer erreichbar, da längst vergriffen waren. Die Werkausgabe lädt zu einer Neuentdeckung der expressionistischen Dada-Frau und ihres (Schreib-)Umfelds ein, sie wird anregen und verblüffen.
Emmy Hennings: »Gefängnis. Das graue Haus. Das Haus im Schatten«. Herausgegeben und kommentiert von Christa Baumberger und Nicola Behrmann. Unter Mitarbeit von Simone Sumpf. Mit einem Nachwort von Christa Baumberger. Emmy Hennings: Werke und Briefe. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 1. Wallstein 2015, 576 Seiten, 24,90 Euro
fixpoetry, 29. Januar 2016