Dass vier Jahrzehnte DDR in den Biographien der Ostdeutschen noch lange nachwirken werden, sogar bei den erst kurz vor der Wende Geborenen, wird mit wachsendem Abstand zum Jahr 1989 immer deutlicher. Es sind Lebensprägungen entstanden, die sich nicht so leicht glätten oder gar zum Verschwinden bringen lassen, wie man in der ersten Euphorie glaubte – weder bei der in der DDR geborenen und aufgewachsenen Elterngeneration noch bei ihren Kindern. Die Sozialisation blieb auch nach der Wiedervereinigung in vielem ostdeutsch, Unterschiede in Mentalität und Erfahrungen wirkten lange nach und vererben sich immer noch weiter. Der 1984 in Halle an der Saale geborene Matthias Jügler thematisiert in seinem Roman »Die Verlassenen« mit leisen Tönen, aber sehr einprägsam die Verletzungen, die die Bespitzelung, das gegenseitige Misstrauen und die Vertrauensbrüche in der alternativen Kunstszene der DDR auch den Kindern der Protagonisten schlugen. Wie alle Minderjährigen in der DDR waren sie ohnmächtige Zeugen eines auf Lügen beruhenden, unerklärlichen und unerklärten Geschehens, nur dass die Folgen, unter denen sie zu leiden hatten und haben, gravierender ausschlugen. Eine Frage, ob man sein Leben bewältigt, ist wohl immer, ob man seinen Opferstatus perpetuiert oder sich aus dieser Rolle befreien kann. Jüglers Held gelingt eine souveräne Selbstermächtigung, die auf der Akzeptanz der schließlich erkannten Wahrheit beruht und ohne Anklage und Rache auskommt. Wie er zu dieser großen stillen Bescheidung gelangt, das liest man sehr gern.
Matthias Jügler: »Die Verlassenen«. Roman. Penguin, 176 Seiten, 18 Euro
FAS Nr. 18, 9. Mai 2021, Feuilleton Seite 42