Mehr als eine Märtyrerin
Sylvia Plaths Erzählungen wurden zum achtzigsten Geburtstag und fünfzigsten Todestag der Autorin neu aufgelegt
Das Schaffen der Dichterin Sylvia Plath (1932–1963) wurde lange primär im Zeichen ihres tragischen Suizids wahrgenommen. Die autobiografische Lesart droht aber den Blick auf das literarische Potenzial ihres Werks zu verstellen.
Das Leben der Schriftstellerin Sylvia Plath war kurz. Zu kurz, als dass man ermessen könnte, wie gross ihr Potenzial als Autorin war. Sie war keine Frühvollendete, und sie hinterliess nur ein schmales Werk: den Roman »Die Glasglocke« und zwei abgeschlossene Gedichtbände, »The Colossus« und »Ariel«, letzterer erst postum erschienen. Zwei Bände mit Erzählungen. Tagebücher und Briefe. Da wäre noch viel Raum gewesen für Weiteres. Für eine Entwicklung, inhaltlich und formal. Für eine andere, durch Lebenserfahrung, Temperament, Altersweisheit gefärbte Grundierung. Aber von dem Werk, das Sylvia Plath nie geschrieben hat, lässt sich nicht einmal träumen.
Am 11. Februar 1963, im Alter von dreissig Jahren, nahm sie sich das Leben. Sie schluckte Schlaftabletten und legte, nachdem sie den Gashahn aufgedreht hatte, den Kopf in den Backofen des Herdes. Ihre beiden Kinder schliefen im Nebenraum, Fugen und Ritzen hatte sie abgedichtet. Trotz einiger Anerkennung zu Lebzeiten war es vor allem ihr dramatisch-tragischer Tod, der sie berühmt, ja zu einem Mythos machte.
Ikone des Feminismus
Plaths Leben und Schreiben wird seither fast durchweg von ihrem Selbstmord aus gelesen. Er ist die unumstössliche Deutungsinstanz ihrer Interpreten, und zugleich verdunkelt er die Sicht auf ihr Werk. Er machte aus ihr nicht nur eine Ikone weiblichen Schreibens, sondern auch des Feminismus, und zwar gerade, weil sie an diesem Leben sche terte. Daran, die verschiedenen, sich zum Teil ausschliessenden Vorstellungen und Rollenbilder – Tochter, Ehefrau, Mutter, Geliebte, Schriftstellerin, Muse –, die sie für sich imaginierte und inszenierte, in Einklang zu bringen.
Für nicht wenige ihrer sich in ihre Lebenstragödie einfühlenden Leser und insbesondere Leserinnen hatte es den Anschein, als hätte sie nicht Selbstmord begangen, sondern wäre ermordet worden: von ihrem Vater, der starb, als sie acht Jahre alt war, und der eine Leere in ihrem Leben hinterliess, die sie nie auszufüllen vermochte. Und von ihrem Ehemann Ted Hughes, Schriftsteller wie sie, bewundert und gehasst. Dass die beiden Hauptwerke, der Roman und der letzte Gedichtband, erst kurz vor und nach ihrem Tod erschienen sind, hat zu dem Missverständnis beigetragen. Sie wurden zum Symbol für das Martyrium weiblicher Autorschaft, die sich lebenslang durch männliche Autorität eingeschüchtert und beschnitten sieht und Anerkennung, gar Ruhm erst durch Selbstmord erlangen kann.
Liest man die Tagebücher, bekommt man einen anderen Eindruck. Den von einer Autorin, die sich ein idealisiertes männliches Gegenüber konstruiert, von dem sie sich abhängig fühlt, auf das sie Rücksicht nehmen zu müssen glaubt, das ihren Widerstand weckt, das sie entwertet – um produktiv zu sein. Kreativität entsteht bei Plath vor allem in der Aggression, in Widerspruch und Kampf, in Auflehnung gegen den immerfort aufrechterhaltenen, internalisierten Opferstatus. »Ich brauche einen Feind als Nahrungsmittel meiner Willenskraft«, heisst es bei Alexander Kluge. Plath schafft sich so ihren Schreibgrund, ihren manischen Schreibfuror – als Anklage und Verhöhnung, Selbsterklärung und Rechtfertigung, Wetzstein der Imagination. Aber nicht ihr Leben, nicht ihr Selbstmord machen sie zu etwas Besonderem, sondern ihr Schreiben. Die autobiografische Lesart ist trivial. Sie reduziert das Werk auf die weibliche Perspektive, dazu die einer Kranken. Plaths Werk aber ist nicht auf den Suizid hin geschrieben worden, und schon gar nicht wurde es durch ihn vollendet oder gekrönt. Es kommt aus der Unmittelbarkeit des Erlebens und der Imagination. Aus Herkunft, Lektüren, Diskursen, die sie durchlaufen hat. Und hat seine eigene Logik. Seine Unvollkommenheiten, unausgeschöpften Potenziale und seine Schönheit und Kraft.
»Jeden Tag sitze ich von neun bis fünf an meinem Schreibtisch mit dem Gesicht zur Tür und schreibe die Träume anderer Leute auf.« Das ist der erste Satz der Erzählung »Johnny Panic und die Bibel der Träume«. Und so geht es weiter. Harte, glasklare Sätze. Sätze mit Wucht. Dann wieder, überraschend, eine Abschweifung, eine plötzliche Weichheit, ein Schweben. Und der nächste Schlag. »Ich ... stelle mir vor, dass die Welt sich nur aus einem Grund dreht, einem einzigen: Panik.«
Die Erzählerin ist Assistenzsekretärin in der Erwachsenenpsychiatrie, zuständig fürs Abtippen der Träume der Patienten. Aber sie hält sich nicht nur an die protokollierten, sondern schreibt auch die verschwiegenen, geheim gehaltenen, unbewussten auf. Sie erahnt sie, kaum haben die Patienten den Raum betreten, und macht sich daran, Traum um Traum »aus seiner bequemen Position unter der Zunge herauszureissen«. Nichts muss man von Sylvia Plath wissen, um diese Sätze zu verstehen. Sie wirken unmittelbar. Sie erzählen nicht nur eine Geschichte. Sie zeigen, was Literatur ist und kann: uns den Johnny Panic zeigen, der in uns allen wohnt. Und am Ende der Erzählung angekommen, will man sie sofort wiederlesen. Will wissen, wie Plath das macht, wie sie ihre Schläge in die Magengrube, ins Hirn des Lesers so treffsicher placiert.
Einblicke in den Schaffensprozess
Nicht alle Erzählungen in den beiden Bänden, welche die Frankfurter Verlagsanstalt anlässlich des 80. Geburtstags von Sylvia Plath am 27. Oktober 2012 und des jetzt am 11. Februar zum 50. Mal sich jährenden Tidestages in einer Neuedition herausgebracht hat, haben die Intensität von »Johnny Panic«. Einige sind auch nur Skizzen, Entwürfe, den Tagebüchern entnommen. Aber gerade durch diese Texte, die noch nicht wie in Stein gemeisselt dastehen, erfährt man viel über die literarische Begabung Sylvia Plaths. Ihre Art, zu arbeiten, Übergänge zu gestalten, Motive zu entwickeln. Eine beeindruckende Bandbreite an Stimmen und Stimmungen, Wut, Zartheit, Sarkasmus, Sehnsucht nach Liebe, Freundschaft, Vertrauen – und der niederträchtige Verrat, die Scham, die auf ihn folgt. Auf ein paar Seiten sind da die grossen Themen der Literatur versammelt und in den besten Stücken so gestaltet, dass man sie nie mehr vergisst. Sie verbinden sich unauflöslich mit dem eigenen Leben. Das ist etwas, was nur grosse Literatur vermag.
Sylvia Plath: Die Bibel der Träume. Erzählungen. Aus dem Amerikani- schen von Julia Bachstein und Sabine Techel. Frankfurter Verlags- anstalt, Frankfurt 2012. 240 S., Fr. 22,90
Sylvia Plath: Zungen aus Stein. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Julia Bachstein und Susanne Levin. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2012. 266 S. Fr. 22,90
NZZ Nr. 33, 9. Februar 2013, Feuilleton Seite 61