Erinnerungen
Dreißig Jahre deutsche Wiedervereinigung, und noch immer sind viele Geschichten nicht erzählt. Die in Leipzig lebende Fotografin Jessica Barthel, Jahrgang 1984, startete im Sommer 2019 einen Instagram-Account, auf dem in der späten DDR Aufgewachsene Fotos aus ihren Familienalben posteten und dazu kurze Texte schrieben, in denen sie die Kontexte skizzierten, sich erinnerten, ihre heutige Sicht auf die DDR reflektierten. So wuchs über einige Monate ein kommentiertes Erinnerungsporträt der DDR aus Privataufnahmen, das jetzt unter dem Titel „Schwalbenjahre“ (Schwalbe hieß die Vespa Ost) als Buch im Eigenverlag erschienen ist. Es zeigt, dass die (späte) DDR bunt war und ebenso konsumorientiert wie die noch etwas buntere BRD, dass Familiensinn und das Verwöhnen der Kinder höchste Priorität genossen und der gemeinschaftlich ausgelebte Freizeithedonismus einen Ausgleich zu den in den sozialistischen Institutionen zurechtgestutzten Lebensentwürfen bot. Was man sich nach dem Durchblättern dringend wünscht: einen gesamtdeutschen Schwalbenjahr-Account, der ost- und westdeutsche Fotos und Erfahrungen im Reißverschlussprinzip zusammenführt. An der Oberfläche sähen sich die gezeigten Welten ähnlich, in den darunterliegenden Erfahrungen und Erinnerungen wären sie es nur bedingt. Das Reizvolle erwüchse aus der Spannung zwischen Bildern und Texten, die für die noch Jüngeren zwei fremde Welten ergäben, denn auch diese Bundesrepublik gibt es ja nicht mehr.
»Schwalbenjahre 1949–1990. Ein Erinnerungsportrait der DDR«. Herausgegeben von Jessica Barthel. 284 Seiten, 29,95 Euro, zu bestellen unter: schwalbenjahre.com
FAS Nr. 50, 13. Dezember 2020, Feuilleton Seite 48