Stefan Eggert »Abfahrbereit – Wolfgang Koeppens Orte«

11.09.2006 Sprache/Meta

Stefan Eggert »Abfahrbereit – Wolfgang Koeppens Orte«Rezension

Tauchen nach Vineta 
Stefan Eggerts »Abfahrbereit«

Es gibt Schriftsteller, von denen kennt man nur ein Bild. Wolfgang Koeppen ist so einer. Nie hat man ihn anders als alt und mit Hornbrille gesehen, mehr oder weniger kahlköpfig, mit schmalen, fest aufeinander gedrückten Lippen und durch die Brillengläser verkleinerten Augen – so blickt er uns streng und manchmal auch mürrisch von Buchvorder- und rückseiten, von Umschlagklappen und aus Verlagsprospekten an. So ein Gesicht, das wir uns nicht jung, schon gar nicht kindlich vorstellen können, so ein Blick, der uns prüft und, wie wir denken, für zu leicht befindet, kann schuld daran sein, dass wir diese Bücher rasch wieder aus der Hand legen, dass wir einen Bogen um sie machen, und das oft jahrelang, und wenn uns jemand fragte, warum, so wüssten wir darauf nicht recht zu antworten – mehr als ein Unbehagen, ein unbegründetes, ist es ja nicht. Wir fühlen uns ein bisschen schuldig, denn im Stillen denken wir: Da hat wieder das Bild über das Wort triumphiert, dabei hätten wir es doch im Grunde anders gewollt.

Aber dann. Dann kommt ein Buch, eigentlich nur ein Büchlein, Klappenbroschur, mit einer Dampf ausstoßenden Lok auf dem Umschlag, schwarzweiß, und im Titel leuchtet rot „Abfahrbereit“. Und abfahrbereit – sind wir das nicht immer, immer gern, wenigstens in Gedanken? Also schlagen wir das Buch auf, und neben dem Titel finden wir ein Foto, das uns festhält, das uns lächeln lässt: Ein Mann steht da, in einem dunklen Raum (einer Wohnung?, einem Atelier?), untersetzt, die Hosenträger spannen sich über dem gestreiften Hemd, sein Kopf mit dem gelichteten Haar, das nur im Nacken lang und gelockt ist, ist nach vorn geschoben, als spähe er, und der Mann späht auch wirklich, durch ein Fernglas auf eine Karte, die an einem Bücherregal befestigt ist – darauf: Indien und China. Dieser Mann ist Wolfgang Koeppen, dessen hundertsten Geburtstag und zehnten Todestag wir in diesem Jahr begehen.

Mehr als eine Topographie

Wieder ist es ein Bild – ein Koeppen-Bild, das uns führt. Aber diesmal führt es uns nicht nur, sondern verführt uns, hinein ins Buch zum Text, zum Wort. Denn jetzt sind wir auf der Stelle für ihn eingenommen. Jemand, der sich so fotografieren lässt, kann nicht streng und erzieherisch sein, wie wir dachten, sondern muss Humor haben, muss selbstironisch sein und schillern, und wir werden neugierig, auf ihn, auf das, was er geschrieben hat, und auf das Buch, dem wir diese Neugier verdanken – und das wir ja immer noch aufgeschlagen in Händen halten und von dem wir hoffentlich mehr erfahren, über Koeppen und Indien und Ferngläser, über Ortsbegehungen, Ortsbetrachtungen, tatsächliche und imaginierte, denn das verspricht sein Titel: eine Topographie zu geben von Koeppens Leben und Schreiben.

Der Autor Stefan Eggert, Germanist, Historiker, Philosoph, passionierter Spaziergänger und Weltreisender, erzählt von den für Koeppen biographisch bedeutsamen Orten, Städten, Großstädten vor allem, und Landschaften: der Geburtsstadt Greifswald, der Kindheitslandschaft Masuren mit der Provinzstadt Ortelsburg (von deutschen Ordensrittern auf den Mauern einer Pruzzenburg gegründet), dann von der Metropole Berlin, in der er in den Zwanzigern glücklich war, vier Jahre Holland, dann München und Bonn, immer wieder Rom und Venedig, das er liebte, Paris und 1958 New York – „Amerikafahrt“.

Stefan Eggert gibt mehr als nur eine Topographie des Lebens und Schreibens, stellenweise wird er bereits Biograph und berichtet von Koeppens Lebens- und Arbeitsumständen, vom politischen Kräftefeld, von unglücklicher Liebe und geglückter Arbeit, zum Lebensende hin immer häufiger auch von ihrem Scheitern. Und zugleich erfüllt er nicht ganz die Erwartungen des Lesers, denn nicht immer gelingt ihm überzeugend, Verbindungslinien zwischen Biographie und Werk und den ihnen zugrunde liegenden Orten zu ziehen – in einigen Kapiteln werden diese mehr behauptet als nachgezeichnet oder die eine Seite zugunsten der anderen ganz ausgeklammert. So im „Bonn“ überschriebenen Kapitel, das zwar präzise beschreibt, wie diese Stadt im Roman „Tauben im Gras“ als Metapher für das politische System der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren fungiert, die Stadt selbst jedoch nicht sichtbar macht und auch den biographischen Bezug zu Koeppen nicht herstellt.

Überzeugend gelingt die Verknüpfung dagegen in dem der ewigen Stadt gewidmeten Kapitel; hier unternimmt Eggert nicht nur eine Analyse des Romans „Der Tod in Rom“, in dem die im Titel genannte Stadt zur Chiffre für eine weit in die Zeit zurückreichende Reihe mythologischer, historischer, religiöser, kunstgeschichtlicher Vorstellungen und Begriffe wird, sondern er beschreibt zugleich, wie Koeppen diese Stadt, mit ihren Straßen und Plätzen, der Ruhe in ihren Parks und ihrem tosenden Verkehr, mit ihren Geräuschen und Gerüchen atmosphärisch immer anwesend, „zu einem mehrdimensionalen und vielfach ineinander verschachtelten Gebilde konstruiert, zu dem sich die Personen des Romans wie zu ihrer persönlichen und politisch-gesellschaftlichen Geschichte verhalten“. Zwei Netze sind hier übereinander gelegt – das der „personellen Verflechtungen der Romanfiguren“ und das der „im Roman zurückgelegten Wege“, und ihrer beider Fäden laufen in der Hand des Schreibenden zusammen, gehen von ihr aus.

Verlorene Heimat

Die Geschichte aber, von der sie erzählen, ist die jüngst vergangene – ist Faschismus und Nationalsozialismus, ist der Krieg (und der ist, trotz Kapitulation, längst nicht vergangen) – ist die Geschichte des Verlusts, des Todes: Denn auch der „Tod wirft sein unsichtbares Netz über die Stadt“, über den Roman, in dessen Titel er steht, und er wirft sein Netz auch über den Autor.

„Wo möchten Sie leben?“ wurde Wolfgang Koeppen 1980 gefragt. Und er antwortete: „In jenem Berlin, das war, bevor Hitler kam.“ Er nennt diese verlorene Heimat, den vernichteten Ort, auch „Vineta Berlin“. Nur die Erinnerung führt noch in die untergegangene Stadt. Und das Schreiben, das von ihr getragen wird. Aber Koeppens immer wieder unternommener Versuch zu einem Berlin-Roman kam über etliche Anfänge nicht hinaus. Bruchstücke finden sich im Nachlass, abbrechend, neu ansetzend, ein zerrissenes Netz. Und doch hat er das Kernstück des geplanten Romans geschrieben – und zugleich den Grund gegeben, weshalb er ihn nicht hat schreiben können. In der kurzen Prosa „Romanisches Café“ heißt es am Ende: „[...] wir waren im Purgatorium zwischen Wittenbergplatz und Zoologischer Garten, ein Verleger stolperte über Schotter und Schwellen und sagte, Sie werden das schreiben, und ich dachte, ich werde es schreiben, und wußte, daß ich starb, in dieser Zeit, in diesen Jahren, auch wenn ich nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt, über uns loderte die Stadt, brauste der Feuersturm, ich stieg aus dem Schacht, der Turm der Kirche war zerschmettert, und das romanische Haus mit dem Romanischen Café glühte, als leuchtete im Sieg die Orisflamme eines geheimen Vaterlandes.“

Das „geheime Vaterland“ Koeppens ist in diesen Jahren untergegangen, und er ist versunken mit dem brennenden Vineta-Berlin. Aber er hat doch immer noch ein paar Flaschenposten geschickt. Und es liegt an uns, sie zu öffnen und dann uns hinunterzuwagen zu dem versunkenen Koeppen-Kontinent – mit seinen vorgelagerten Inseln, seinen Atollen, den weiten Landschaften und dem hohen Himmel, den Bergen und Flüssen, vor allem aber dem Labyrinth seiner Städte. Es ist an uns, ihn nicht mit Hilfe eines durch Leben und Werk führenden Buches wie durch ein Fernglas zu betrachten, sondern wirklich „abzufahren“ und ihn auf eigene Faust zu entdecken.


Stefan Eggert: »Abfahrbereit«. Wolfgang Koeppens Orte. Topographie seines Lebens und Schreibens. Verlag Das Arsenal, Berlin 2006. 110 S., 12,80 Euro

Die Berliner Literaturkritik, 11. September 2006

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