Hannah Arendt war der Meinung, in der Moderne einen neuen Typ Lüge auszumachen, den sie besonders im Nationalsozialismus und Kommunismus veranschaulicht fand. Näher bestimmt handelt es sich um eine Form der Lüge, die nicht nur versucht, einzelne Wahrheiten zu verdecken, sondern vielmehr die Trennung zwischen Wahrheit und Unwahrheit als solche aufzuheben: »Die Lügen totalitärer Bewegungen, für den Anlass erfunden, ebenso wie die von totalitären Regimen begangenen Fälschungen, sind der grundlegenden Einstellung untergeordnet, die die Trennung zwischen Wahrheit und Falschheit ausschließt.« Arendt stützte sich unter anderem auf die Beobachtungen von Alexander Koyré, der 1945 in einem Essay schrieb, dass der Mensch in einer totalitären Gesellschaft »in der Lüge badet, in der Lüge atmet, in jedem Augenblick seiner Existenz von der Lüge versklavt ist«. Weiterhin hielt er fest, dass »das totalitäre Regime auf dem Primat der Lüge gründet«. Man könnte sagen, dass die totalitäre Lüge dadurch gekennzeichnet ist, vollkommen unbekümmert zu sein. Für den totalitären Gedanken haftet der Lüge nichts Bedenkliches an. Anstatt Doppelmoral findet sich die totale Abwesenheit von Moral.
Arendt unterstreicht: Dort, wo sich die traditionelle Lüge um Geheimhaltung drehte, betrifft die moderne Lüge etwas, das für jeden offensichtlich ist, indem die Geschichte unmittelbar vor den Augen derjenigen umgeschrieben wird, die sie selbst erlebt haben. Es geht nicht darum, die Wirklichkeit zu verdecken, sondern darum, die Wirklichkeit zu zerstören, damit sie die Lüge nicht konfrontieren kann. [...]
Der Totalitarismus veränderte den traditionellen Begriff von Wahrheit radikal hin zu einer Übereinstimmung von Gedanke und Wirklichkeit: Wir können die Wahrheit produzieren, wenn wir die Wirklichkeit produzieren können! Vielmehr als dass der Gedanke versucht, die Wirklichkeit zu erfassen, soll er eine Wirklichkeit erzeugen. Mit anderen Worten brauchen wir nicht zu »warten, dass die Wirklichkeit sich entlarvt und uns ihr wahres Gesicht zeigt, sondern können stattdessen eine Wirklichkeit erzeugen, deren Strukturen uns von Beginn an bekannt sein werden, weil das Ganze unser eigenes Produkt ist«. Der moderne Lügner ist in erster Linie kein Denker, sondern ein Schöpfer, einer, der Handlungen vollzieht, damit die Politik wahr wird, auch wenn sie noch nicht wahr ist.
Wenn man »die Wirklichkeit« in einer solchen Weise kontrollieren kann, dann kann man auch diejenigen kontrollieren, die in dieser Wirklichkeit leben. Arendt schreibt:
»Was es einem totalitären Regime möglich macht zu herrschen, ist, dass die Leute nicht informiert sind. Wie kann man eine Meinung haben, wenn man nicht informiert ist? Wenn einen alle immer anlügen, ist die Folge nicht, dass man an die Lügen glaubt, sondern vielmehr, dass niemand überhaupt etwas glaubt. Das ist der Fall, weil Lügen, in ihrem Wesen, verändert werden müssen, und eine verlogene Regierung muss die eigene Geschichte ununterbrochen umschreiben. Als Empfänger erhält man nicht nur eine Lüge – eine Lüge, der gegenüber man sich den Rest seiner Tage verhalten könnte –, sondern eine große Anzahl von Lügen, abhängig von der Richtung, in die der politische Wind weht. Und ein Volk, dass nicht mehr an etwas glauben kann, kann sich keine Meinungen bilden. Es wird nicht nur seiner Handlungsfähigkeit beraubt, sondern auch seiner Fähigkeit zu denken und zu beurteilen. Und mit einem solchen Volk kann man machen, was man will.«
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Der Totalitarismus demontiert den sozialen Raum und dadurch auch die Trennung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Arendt beschreibt dies als eine organisierte Einsamkeit. Im Hinblick auf Vertrauen und zwischenmenschliche Beziehungen gibt es nachweisbare Unterschiede zwischen Demokratien und totalitären oder autoritären Gesellschaften. Diesem Aspekt vorgegriffen hatte im Übrigen bereits Aristoteles, der darauf hinwies, dass Freundschaft nur in geringem Maße in Tyranneien und in höherem Maße in Demokratien existiere. Ist die Gesellschaft derart von Lüge durchdrungen, wird es fast unmöglich, das Vertrauen auf etwas zu richten. Um als Staatsbürger zu funktionieren, bedarf es einer Beziehung zu »vertrauensvollen und zuverlässigen Ebenbürtigen«.