Lektüre

14.11.2024

Lektüre14. November

Allein in den vergangenen fünfzig Jahren hat der Mensch die globalen Ökosysteme schneller, umfangreicher und nachhaltiger verändert als in vergleichbaren Zeitabschnitten der gesamten Menschheitsgeschichte davor. Ursachen für diese Veränderungen sind vor allem die nicht nachhaltige Erzeugung von Nahrung und der Zugriff auf die essenziellen, aber durch Missmanagement und Kurzzeitdenken immer knapper werdenden Ressourcen wie sauberes Trinkwasser, Holz und Treibstoff. Dies hat zu einem erheblichen und weitgehend irreversiblen Verlust der Vielfalt des Lebens auf der Erde geführt. 

[Wir] gehen fälschlicherweise [oft] immer noch davon aus, dass der Kollaps irgendwann in der Zukunft liegen würde und bis jetzt noch nicht stattgefunden hätte. Das ist [...] eindeutig ein großer und folgenschwerer Irrtum. Der Kollaps vollzieht sich langsam.

Neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten entstehen dann, wenn wir [...] akzeptieren, dass der Beginn des viel zitierten »Kollapses« bereits in der Vergangenheit liegt. Es ist ein im täglichen Alltag weitgehend unsichtbarer Prozess. Zudem sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass Kollaps auch immer einen Verlust von Ordnung darstellt, wie wir ihn derzeit erleben. Allerdings [...] braucht es den Zusammenbruch eines Systems, damit es sich aus der frei gewordenen Energie wieder neu ordnen kann.

[...]

Das Gewicht von Plastik auf der Erde ist größer als das von allen Tieren an Land und im Wasser zusammengenommen.

[...]

In natürlichen Systemen wächst zu Beginn alles, durchaus auch kompetitiv, bis das quantitative Wachstum irgendwann zum Stillstand kommt. In der Folge ist nur mehr qualitatives Wachstum zu beobachten. 

[...]

Der US-amerikanische Quantenphysiker und Philosoph David Bohm (1917–1992) argumentierte in Übereinstimmung mit den Ansichten von Bateson und Noble, dass unsere Sprache viel zu objektorientiert sei und wir daher eine Welt voller statischer und fragmentierter Objekte anstelle ganzheitlich dynamischer Prozesse sehen würden. Bohm sah in der Verlagerung des Fokus von statischen Objekten auf Prozesse einen zentralen Schritt, nicht nur zur Lösung von Problemen der Physik, sondern insbesondere der sich bereits damals abzeichnenden Umweltkrise. Ähnlich wie Bateson erkannte er die Ursache der ökologischen Krise in erkenntnistheoretischen »Missverständnissen« der menschlichen Kognition. So schrieb Bohm in seinem Klassiker Die implizite Ordnung – Grundlagen eines Ganzheitlichen Weltbildes zu dem vorherrschenden fragmentierten, reduktionistischen Weltbild: 

»Wenn diese Art des Denkens breiter angewendet wird, wie auf das Bild, das sich der Mensch von sich selbst und von der Welt, in der wir leben, macht (d.h. sein Selbst-Weltbild), dann empfindet er die dabei entstehenden Teilungen nicht mehr nur als sinnvoll oder bequem, sondern beginnt, sich selbst und seine Erfahrungen als tatsächlich getrennt existierende Fragmente zu sehen. Indem er sich von einem fragmentierten Selbst-Weltbild leiten lässt, handelt er so, als würde er es geradezu darauf anlegen, sich selbst und die Welt zu fragmentieren, so dass alles mit seiner Denkweise im Einklang steht. Der Mensch erhält so einen scheinbaren Beweis für sein fragmentiertes Selbst-Weltbild, obgleich er natürlich übersieht, dass er durch seine Denkweise selbst diese Fragmentierung erst hervorgebracht hat, die nun eine autonome Existenz zu haben scheint, unabhängig von seinem Willen und seinen Wünschen.«

»Mit anderen Worten, gerade weil die Wirklichkeit eine Ganzheit ist, wird der Mensch mit seinem fragmentarischen Ansatz unweigerlich die entsprechende fragmentarische Antwort hervorrufen. Daher sollte der Mensch auf seine gewohnheitsmäßige, fragmentarische Denkweise achten, sich dessen bewusst sein und sie so beenden. Dann kann der Mensch vielleicht ganzheitlich an die Wirklichkeit herantreten und so eine ganzheitlöiche Antwort erhalten.«

[...] Anstelle von Substantiven schlägt Bohm vor, Verben zu benutzen, da diese das Prozesshafte betonen und nicht wie diskrete Subjekte und Objekte die Entstehung und Verfestigung fragmentarischen Denkens fördern. [Ich verweise hier auf die Lyrik von Anja Utler, s. meinen Artikel zur jungen deutschen Gegenwartslyrik im Feuilleton der FAS vom 28. April 2013]


Fehler im Umgang mit komplexen Systemen

[Häufig stürzt man sich] bevorzugt auf Einzelprobleme anstatt in die Resilienz, die Widerstands- und Lebensfähigkeit eines komplexen Systems zu investieren. [...] Manchmal versteift man sich auf ein Einzelproblem, das mit der Zeit zum Favoriten wird. Hat man dabei im Idealfall anfängliche Erfolge, werden hinkünftig alle anderen Probleme gänzlich ausgeblendet, was zu schwerwiegenden Konsequenzen in anderen Bereichen führt [...] Gerade Politiker und Ökonomen sind häufig Prototypen eines derartigen unvernetzten Denkens.
Gestützt durch neueste Informationstechnologien werden gerne große, eindrucksvolle Datenmengen gesammelt, ohne bei der Auswertung deren inhärente Ordnungsprinzipien (wie zum Beispiel Rückkopplungsschleifen oder Grenzwerte) und die Dynamik des Systems zu berücksichtigen.
Ein ebenfalls häufig zu beobachtenden Phänomen ist die Tendenz der Übersteuerung. Wenn anfängliche kleine Eingriffe nicht zum gewünschten Erfolg führen, wird in der Folge kräftig eingegriffen, was wiederum, mit etwas Verzögerung, zu negativen Auswirkungen in die andere Richtung führt. [...]
Fast ein moderner Klassiker ist die Tendenz zu autoritärem beziehungsweise diktatorischem Verhalten gegenüber komplex verflochtenen Systemen. Dass dieses Gegen-den-Strom-Schwimmen bei komplexen Systemen noch nie gut gegangen ist, liegt auf der Hand. Im Unterschied zur Politik erschließen sich im Falle komplexer Systeme sinnvolle und wirkungsvolle Wege und Lösungen nur durch ein Schwimmen mit dem Strom eines Systems. [...]
Ein komplexes adaptives Systems versteht man am besten, wenn man mit ihm interagiert und in Echtzeit Feedback erhält, und nicht indem man es theoretisch analysiert oder modelliert. 


Holismus – eine ganzheitliche Betrachtungsweise

Holismus [...] betont [...] die Notwendigkeit, die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Teilen besser zu verstehen, um ein umfassenderes Bild zu erhalten. [...]
Während eine holistische Weltsicht in Europa bis zur Aufklärung vorherrschend war, geht der Begriff »Holismus« selbst auf den südafrikanischen Staatsmann, Philosophen und Armeegeneral Jan Christiaan Smuts (1870–1950) zurück, der den Terminus erstmals in seinem 1926 erschienenen Buch Holismus und Evolution vorstellte. Er argumentiert, dass ein holistisches Prinzip existiere, das auf alle Aspekte der Natur, einschließlich lebender Organismen, Gesellschaften und des Universums als Ganzem, zutreffe. 

[...]

Heute gilt der Holismus als ein wichtiger Begriff in vielen Bereichen der Wissenschaft und wird weithin als zentrales Prinzip des Systemdenkens und der Komplexitätstheorie gesehen. Einige Schlüsselaspekte des Holismus [...] sind:
- ein holistisches Denken, das die Betrachtung von Dingen oder Systemen als integrale Einheiten fördert, bei denen die Teile eng miteinander verbunden sind oder zusammenwirken;
- das Prinzip der Emergenz, das uns daran erinnert, dass stets neue Eigenschaften oder Merkmale aufgrund der Wechselwirkungen zwischen den Teilen entstehen können, die auf niederigeren Ebenen nicht vorhersehbar waren;
- das Prinzip der Kontextualisierung, das die Bedeutung des Kontexts und der Umgebung, in der ein System exostiert, betont, wobei sich die Bedeutung eines Teils je nach seiner Beziehung zum Ganzen ändern kann (die »Essenz des Ortes«);
- das Prinzip der Interdisziplinarität als Ausdruck der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen. Nur so können unterschiedliche Ansätze zusammengeführt werden, um ein umfassendes Verständnis der Zusammenhänge und Muster in verschiedenen Bereichen des LEbens zu erreichen.
- Die Integration sozialer und ökologischer Perspektiven sieht die Bedeutung von sozialen Systemen, Gemeinschaften und Ökosystemen als Ganzes (sogenannte »sozial-ökologische Systeme«).

In diesem Zusammenhang sei auch gleich noch ein Terminus technicus erwähnt, nämlich jener der »Kybernetik«. Der Begriff wurde Mitte des letzten Jahrhunderts von dem US-amerikanischen Mathematiker und Philosophen Norbert Wiener (1894–1964) geprägt und bezeichnet die wissenschaftliche Untersuchung von Steuerungs- und Regelungssystemen, sei es in biologischen, technologischen oder sozialen Systemen. Er leitet sich aus dem griechischen Wort kybernetes ab und bedeutet Steuermann. Die Kybermetik betrachtet gewissermaßen als »Steuermannskunst« die Art und Weise, wie Systeme Informationen verarbeiten, um sich selbst zu regulieren, anzupassen und auf Veränderungen zu reagieren. Ein besonderer Fokus liegt dabei neben Feedbackmechanismen und Regelkreisen auf Selbstorganisation, Anpassungsfähigkeit- und lernfähigkeit von Systemen.


Martin Grassberger, Regenerativ. Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter 

 

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