Grausam einsam
Die französische Schriftstellerin Carole Fives hat über die Selbstaufgabe, die das Muttersein in den ersten Jahren bedeutet, einen kleinen, sprachlich interessanten Roman geschrieben, der das Typische, Alltägliche des Mutterdaseins in unseren Städten einfängt und ein Bild für die große Sehnsucht der Frauen nach Selbstbestimmung findet. Ihre Heldin, alleinerziehende Mutter eines etwa zweieinhalbjährigen Kindes, schleicht sich abends, wenn der Kleine endlich eingeschlafen ist, aus dem Haus. Erst geht sie nur einmal um den Block, dann bleibt sie immer länger aus, schließlich sogar eine ganze Nacht: »Kleine Fluchten«, in denen sie ihr früheres Selbst in sich wiederzufinden, ihren Körper zu spüren versucht, sie lässt die Ängste, Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche zu, die sie tagsüber verdrängen muss, um in der Rolle der »guten Mutter« zu funktionieren. Carole Fives beschreibt sehr genau die grausame Einsamkeit der jungen Frau, die nicht nur vom Vater des Kindes verlassen wurde, sondern von allen Menschen um sich herum im Stich gelassen wird: den Nachbarn, den anderen Müttern auf dem Spielplatz, den eigenen Eltern. Sie bemitleiden oder verachten sie, alle geben ihr gute Ratschläge, aber niemanden rührt ihre Situation, niemand verhält sich solidarisch. Ein präzise eingefangener Ausschnitt westlicher Gesellschaften, wo fast alles wichtiger ist als Gemeinsinn, Zuwendung und Liebe.
Carole Fives: »Kleine Fluchten«. Roman. Aus dem Französischen von Anne Braun. Zsolnay, 144 Seiten, 19 Euro
FAS Nr. 27, 11. Juli 2021, Feuilleton Seite 38