Weiß wie Schnee, mit kahlem Zweigleingewirr vorn auf dem Titel, so erscheint das schmale Bändchen mit Gedichten von Esther Kinsky, als wäre das Jahr bereits ausgeschritten und der Winter da. Drinnen aber blüht es wundersam, so viele Blumen, tiefrot, dunkelblau, zartviolett und strahlend gelb, verströmen ihren Duft, sind umsummt von Insekten, der ganze Sommer findet sich da, das nasskalte Frühjahr, der stürmische Herbst, eine Schatztruhe ist’s, in der das Korn hoch steht, Wiesenschaumkraut und Rittersporn, Malven und Bartnelken einen Teppich weben, so weich, dass man sich rücklings hineinfallen lassen kann. Mit Kletten im Haar und juckenden Mückenstichen steigt man dann, irgendwann, wieder heraus, hat das Buch auf den Knien, und die Schwalben, die wirklichen, die bedichteten, kreisen überm Dach, »schreiben etwas in die luft, das bleibt«, und man weiß wieder: So viel Zaubermacht hat die Sprache, denn es ist ja nur Schrift, schwarz auf weiß, wie die kahlen Zweige im Schnee, wie der Flug der Schwalben unter frostschweren Wolken – ein Wunder.
Esther Kinsky: »die ungerührte schrift des jahrs«. Gedichte. Matthes & Seitz, 72 Seiten, 14,80 Euro
FAS Nr. 35, 5. September 2010, Feuilleton Seite 28